Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Raïssa besorgt.
»Ljussja ist am Sechsten fünfzehn geworden.«
Raïssa riss den Mund auf und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Oleg drückte die erst halb aufgerauchte Zigarette aus und warf dabei den Aschenbecher um. Raïssa sprang auf, lief hinaus und kam mit Besen und Kehrschaufel zurück.
»Bist gut dressiert«, spottete Oleg. »Mütterchen hat dich gut erzogen. Ja, das hat sie drauf. Ärgere dich nicht, ich bin ja auch dressiert.«
»Heb die Beine hoch, du bist im Weg. Du siehst das Kind also manchmal? Und was macht Olga? Wie geht es ihr?«
»Olga gehts gar nicht«, antwortete Oleg mit mechanischer Stimme. »Sie ist tot.«
»Mein Gott! Schon lange?« Raïssa fegte die Kippen zusammen, warf sie in den Kamin und wischte dann auf allen vieren mit einem Lappen die Asche auf.
»Lass das doch mal, setz dich hin. Olga ist schon lange tot, seit über zehn Jahren.«
»War sie denn krank?« Raïssa setzte sich mit dem Lappen in der Hand auf den Rand der Couch.
»So ähnlich.« Oleg lachte schief. »Sie ist aus dem Fenster gesprungen.«
»Aus dem Fenster?«, rief Raïssa. »Ach – dabei heißt es doch, wer damit droht, der tut es nie.«
»Was meinst du damit?«
»Dass ich sie einmal vom Fensterbrett geholt habe, als sie schwanger war.« Raïssa kniff die Lippen zusammen. »Weißtdu, was sie damals zu mir gesagt hat? Sie hat gesagt, deine Mutter würde sie hassen und sie sowieso eines Tages umbringen, also wollte sie es lieber selber tun. Und davor war noch so eine Geschichte: Der eingeschaltete Föhn fiel in die Waschschüssel, als Olga darin einen Pullover wusch. Wie zufällig. Das heißt, natürlich war das Zufall, was rede ich denn da?«
»Der Föhn also. Eingeschaltet, ja? Sieh mal an.« Oleg zwinkerte ihr zu. »Mutter hat sie wirklich gehasst. Sie hat damals auch Vater eingeredet, Olga hätte mich an die Nadel gebracht, ihren unschuldigen Jungen. Dabei wusste sie genau, dass ich damals schon lange indisches Gras, Haschisch und Marihuana rauchte. Olga hatte anfangs panische Angst vor Drogen, aber ich hab ihr weisgemacht, es wäre nichts weiter dabei. Und sie hat mich geliebt, das Dummchen. Von allen meinen Weibern war sie die Einzige, die mich wirklich liebte. Wir haben alles ausprobiert und sind schließlich bei LSD gelandet.«
»Wo seid ihr gelandet?« Raïssa zwinkerte heftig.
»Das ist eine Droge. LSD.« Oleg lächelte.
»Was denn, Oleg, du nimmst Drogen?« Raïssa streichelte seine Hand. »Du Armer, das ist doch unheilbar.«
»Sag bloß, du hast echt nicht gewusst, dass ich drogensüchtig bin? Du lebst seit zwanzig Jahren bei uns, hast mich ständig vor Augen, und du hast nichts gewusst?«
»Ich dachte, du hast Zucker und zu hohen Blutdruck.« Raïssa zog den Kopf ein, als fürchte sie, er könnte sie schlagen. »Dabei war es also das … Jetzt verstehe ich. Und sie ist tatsächlich aus dem Fenster gesprungen, obwohl sie ein kleines Kind hatte – schrecklich! Und was ist mit dem Mädchen?«
»Das Mädchen ist schwachsinnig. Ich sag doch, Olga und ich waren auf LSD, das ist eine Droge mit interessanten Auswirkungen auf die Chromosomen. Die Ärzte bezeichnen Ljussja als debil. Mutter hat Angst, dass irgendwer von Ljussjaerfahren könnte.« Oleg lachte. »Man stelle sich vor: Galina Solodkina, die erfolgreiche, glänzende, wohlhabende Dame hat einen drogenabhängigen Sohn und ein debiles Enkelkind!«
»Wo lebt sie denn? Bei wem?«
»Das Mädchen?« Oleg hörte auf zu lachen und verzog das Gesicht zu einer seltsamen, schmerzerfüllten Grimasse. Raïssa betrachtete voller Angst und Mitgefühl sein hässliches stupsnasiges Profil. »Ich lebte so vor mich hin, ich wusste zwar, dass sie existierte, dachte aber nie an sie. Doch seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe, ist plötzlich alles anders. Ich vermisse sie. Es zieht mich dorthin. Ich fahre mit der Videokamera hin, filme Ljussja und bewundere dann heimlich mein Kind. Mutter hätte fast einen Herzinfarkt gekriegt, als sie erfuhr, dass ich sie besuche.«
»Wo denn?«
»Im Heim. Kein normales Kinderheim, sondern das Beste vom Besten. Wie eine Familie. Ljussja lebt mit gesunden, netten Kindern zusammen. Zum Beispiel mit den fröhlichen Zwillingen, die mit dem Fotografen Nikolai hier waren.«
»Mein Gott, die spielen sie kaputt, sie ist doch behindert.« Raïssa schüttelte den Kopf. »Und die beiden sind so furchtbar frech.«
»Da mach dir mal keine Sorgen. Mutter sponsert das Heim großzügig, dafür wird Ljussja geliebt und gut behandelt.
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