Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Fliege schritten gemächlich einher, am Eingang warb ein grelles Schild für einen Business-Lunch für nur sechshundertfünfzig Rubel.
»Komm, kaufen wir uns wenigstens ein Eis«, stöhnte Sweta.
Ira schüttelte den Kopf. »Ich will kein Eis. Ich will einen Business-Lunch, auf einem weißen Tischtuch, und dass mich so ein geleckter Lakai bedient.«
»Einen Business-Lunch muss man sich verdienen«, bemerkte Sweta mit resigniertem Lachen.
»Klar, zum Beispiel die Wechselstube da drüben ausrauben. Hast du nicht zufällig eine Kanone in der Tasche? Mann, hab ich einen Knast, ich kann nicht mehr!« Ira verdrehte die Augen, so dass man nur noch das Weiße sah.
Sweta schaute sich um und entdeckte eine schwangere blinde Bettlerin. Die junge Frau stand ein paar Meter weiter, vorm Eingang der Grillbar. Über ihren Augen lag ein trüber, gallertartiger Schleier. Sie trug ein kariertes Männerjackett,darunter ein kniefreies geblümtes Batistkleid, das den gewaltigen Bauch eng umspannte. Die Bettlerin schwenkte die Arme und murmelte näselnd: »Gute Leute, gebt, was ihr könnt …«
Sweta wandte sich zu ihrer Schwester um und sah, was sie erwartet hatte: Weiße Augen, heruntergezogene Mundwinkel, einen vorgereckten Bauch, in der warmen Luft herumrudernde Arme.
»Gute Leute, helft …«, rief Ira klagend, das Näseln der Bettlerin perfekt kopierend, »ich kriege ein Kind, helft mir!«
»Hör auf!« schimpfte Sweta. »Hör sofort auf, die Leute sehen schon her!«
Tatsächlich – Frauen, die mit Matrjoschkas und Pawlowsker Tüchern handelten, Straßenmusikanten, Maler und Goldaufkäufer schauten bereits zu. Die Menge auf dem Arbat wusste das kleine Spektakel zu würdigen. Angespornt von der Aufmerksamkeit, geriet Ira noch mehr in Fahrt.
»Gebt mir tausend Dollar für meine hungrigen Kleinen! Seid ihr Menschen oder Unmenschen? Bitte, um Christi willen, tausend Dollar!«
Als Erste lachte eine Händlerin, dann die Musiker und Maler. Nur ein Goldaufkäufer verfolgte die Vorstellung mit versteinertem Gesicht. Ein paar Passanten blieben stehen, eine kleine Menschenmenge sammelte sich. Die echte Bettlerin hatte inzwischen ihr Näseln eingestellt, mit dem sicheren Griff einer Sehenden eine dunkle Brille aus der Jacketttasche genommen und aufgesetzt und war zur nächsten Gasse gerannt.
»Ich war ein reines Mädchen, frisch wie eine Rose! Der gemeine Mistkerl, er hat mir meine heilige Reinheit geraubt! Ich könnte seinen Namen nennen, diesen Namen kennt jeder, aber dann würde er Killer auf mich ansetzen! Er hat einen hohen Posten und fürchtet sich vor Entlarvung! Leute, rettet meine Kinder! Ich bin von Geburt an blind, aber ihn, den Mistkerl, habe ich mit meinen Händen erkannt. MeineKinder brauchen Vitamine, Eiweiß, Fett und Kohlehydrate, sonst kommen sie als böse kleine Debile zur Welt, und wenn sie groß sind, werden sie eine Gefahr für eure Kinder! Helft euren Kindern, Herrschaften, gebt einem armen schwangeren Mädchen tausend Dollar!«
Immer mehr Zuschauer sammelten sich, und einige griffen schon in die Tasche. Leider hatte Ira keinen Hut zur Hand, um ihn vor sich auf den Boden zu legen. Der Auftritt hätte ihr gut und gern dreißig Rubel eingebracht.
Nun drängte sich ein kleines Männchen mit Leinenmütze durch die Menge. Eine faltige Hand mit Trauerrändern unter den Nägeln krallte sich in Iras Kleid fest. Und aus der Gasse, in der das Vorbild von Iras glänzender Improvisation verschwunden war, näherten sich gemächlich zwei junge Gorillas in Shorts und Muskelshirts. Watschelnd folgte ihnen die Schwangere mit der dunklen Brille.
»Miliz! Weg mit der frechen Göre! Sie verspottet eine arme Frau! Sie verhöhnt menschliches Unglück! Verhaftet sie!« brüllte das Männchen mit der Schirmmütze speichelsprühend.
»Komm, Ira, wir hauen ab, schnell!« Sweta packte die Schwester am Arm und zerrte so heftig daran, dass sie beide beinahe gestürzt wären.
Von rechts kamen die Gorillas, die Beschützer der Bettlerin, von links zwei Milizionäre. Die Mädchen liefen in die Menge hinein, und Ira, die noch immer die Blinde mimte, prallte gegen einen müßigen Gaffer, einen älteren Ausländer. Er fing sie höflich auf, sie umarmte ihn und flüsterte: »Oh, Darling! Senkju! Ai law ju!«
Sweta war fassungslos. Statt endlich abzuhauen, knutschte ihre Schwester mit einem Ausländer rum! Die Sache konnte auf dem Milizrevier enden.
Jeder weiß, dass auf dem Arbat jeder Quadratzentimeter »verpachtet« ist. Nicht nur die
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