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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Foto von ihr sehen, da hat Lilja eins mitgebracht. Das Mädchen ist sehr hübsch und sieht Lilja ähnlich. Üppige goldblonde Locken, leuchtend blaue Augen und ein intelligentes Gesicht. Wir haben uns gewundert, warum Lilja nie Karten für Weihnachtsfeiern oder Kindervorstellungen wollte, diewerden an unsere Mitarbeiter kostenlos verteilt. Aber Lilja nahm für ihre Nichte nie eine.«
    Wahrscheinlich hat sie ihr ein Kinderfoto von sich gezeigt, dachte Kossizki mit einem traurigen Lächeln. Na ja, irgendwie verständlich.
    »Ist denn bekannt, woran ihre Schwester gestorben ist?«, fragte er.
    »Ich weiß nur, dass es vor zehn Jahren passierte. Da hab ich noch nicht hier gearbeitet. Es hieß, es sei ein Unfall gewesen. Mein Gott, warum wird ein einzelner Mensch nur von so viel Unglück heimgesucht?«
     
    Jedes Mal, wenn die drei Monate alte Mascha eingeschlafen war, saß Xenia Solodkina ein paar Minuten lang reglos da, lauschte auf die Stille und redete sich zu, dass sie die anderthalb freien Stunden vernünftig nutzen müsse, also Chemie, Physik, Mathematik oder Englisch büffeln oder sich ein Anatomie- oder Biologielehrbuch vornehmen. Doch sie wollte am liebsten mit einer leichten Lektüre auf dem Sofa liegen, am Computer spielen, fernsehen, ein Video anschauen oder einfach nur schlafen.
    Zusammen mit ihr und Oleg wohnte auch die treue Haushälterin Raïssa auf der Datscha. Wenn Xenia ihre Tochter ins Bett gebracht hatte, musste sie nicht Geschirr spülen, Essen kochen, Wäsche waschen oder saubermachen. Sie war von jeglicher Hausarbeit befreit, konnte also in Ruhe lernen, und wenn sie während Maschas Mittagsschlaf faulenzte, fühlte sie sich scheußlich und hatte Gewissensbisse.
    Xenia hatte nach der zehnten Klasse die Aufnahmeprüfungen für die Medizinische Akademie knapp verhauen, und ihre Eltern besaßen nicht das Geld für einen kostenpflichtigen Studienplatz. In diesem Sommer war an Aufnahmeprüfungen nicht zu denken. Sie hatte geheiratet und Mascha bekommen. Aber sie war fest entschlossen, es im nächsten Jahr zu schaffen, und hatte sich hoch und heilig geschworen, Tagund Nacht zu büffeln. Wofür sie auch die besten Bedingungen hatte: die schweigsame, fleißige Raïssa, frische Luft, ein großes, ruhiges Haus und vor allem ein gesundes und ziemlich ruhiges Kind.
    Aber sobald Mascha eingeschlafen war, wurde Xenia von unüberwindlicher Faulheit erfasst. Allein der Anblick des aufgeschlagenen Chemiebuches auf dem Schreibtisch bewirkte in ihr eine wattige Mattheit. Sie griff zu allen möglichen Ausflüchten: Wer konnte bei solcher Hitze lernen? Dreißig Grad im Schatten – wer dachte da an Chemie? Da zerschmolz einem ja das Gehirn. Wobei sie sogleich spöttisch dagegenhielt, dass Untätigkeit das Gehirn noch viel schneller zum Schmelzen brachte.
    Doch heute hatte sie einen aktuellen, gewichtigen Grund, dem Chemielehrbuch die Couch im Esszimmer vorzuziehen und den Fernseher einzuschalten.
    Ihr düsterer, komplizierter, unberechenbarer Mann Oleg nahm in letzter Zeit häufig die Videokamera mit nach Moskau. Wenn sie ihn fragte, was er denn filmen wolle, erwiderte er: »Das geht dich nichts an.«
    Heute Morgen hatte sie den Adapter gefunden, mit dem man sich die Kassette aus der Kamera per Videorecorder ansehen konnte. Das ziemlich schwere kleine Gerät lag unterm Bett, und es steckte eine Kassette darin. Natürlich war Xenia neugierig, zu erfahren, was Oleg da aufgenommen hatte.
    Das Haus war leer und still. Oleg war nach Moskau zur Arbeit gefahren und wollte erst am nächsten Tag zurück sein. Mascha schlief im Kinderwagen im Garten. Raïssa hatte sich in ihr separates kleines Haus zurückgezogen und ruhte ebenfalls. Xenia goss sich ein Glas Moosbeerenmost ein, setzte sich in den Schaukelstuhl im Esszimmer und schaltete das Videogerät ein.
    Auf einem gepflegten grünen Rasen spielten fünf hübsche, fröhliche Halbwüchsige Ball, drei Mädchen und zwei Jungen. Die Mädchen in Badeanzügen, die Jungen in Badehosen.Sie rannten herum, tobten, neckten und schubsten sich gegenseitig. Am Rand des Rasens sonnte sich in einem Liegestuhl eine Frau um die vierzig mit einer Zeitschrift in der Hand. Breitkrempiger roter Hut, dunkle Brille, roter Badeanzug, langer, glatter Hals, lange, schlanke Beine. Hin und wieder sah sie von ihrer Lektüre auf, rief eines der Kinder heran, wischte ihm mit einem Taschentuch sorgsam das nasse Gesicht ab, legte ihm den Arm um den Hals und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das Ganze wirkte wie

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