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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Zigarette – und wollte sie küssen, konnte sich aber nicht dazu entschließen; es wurde ein feierlicher Händedruck, und Borodinerrötete und schimpfte sich zum wiederholten Mal an diesem Abend einen Idioten.
    »Guten Abend, Ilja.« Sie lächelte und rückte ein Stück zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte.
    »Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Zeit in Anspruch nehme. Sie wollen sicher rasch nach Hause, zu Ihrer Familie«, sagte er nach einem Räuspern, »und ich belästige Sie mit meiner Hartnäckigkeit.«
    »Nicht doch, Ilja, ich habe es nicht eilig.« Sie lächelte wieder und schüttelte den Kopf. »Mein Sohn hat Prüfungen, er wohnt zur Zeit bei einem Freund, sie lernen in einer Gruppe zusammen, sie behaupten, das sei effektiver. Ich versuche das zu glauben. Und Ihre Hartnäckigkeit kann ich gut verstehen. Was mit Ljussja letzte Woche passiert ist, bestätigt indirekt, dass jemand sie manipuliert hat und wir es mit einer falschen Selbstbezichtigung zu tun haben.«
    »Ja? Warum glauben Sie das?« Er hätte gern gefragt, wie alt ihr Sohn sei, wagte es aber nicht.
    »Weil Ljussja schwanger war. Also gibt es den Mann, von dem sie spricht, offenbar wirklich. Und Ljussja ist in ihn verliebt.«
    »Verliebt?« Borodin zuckte die Achseln. »Sie kann auch vergewaltigt worden sein, das muss nicht unbedingt etwas mit dem Mord zu tun haben.«
    »Jugendliche von der psychischen Konstitution dieses Mädchens sind äußerst leicht beeinflussbar und grenzenlos ergeben. Wenn Ljussja so einen Angebeteten hatte und er ihr befohlen hat, den Mord auf sich zu nehmen, dann haben wir kaum eine Chance herauszufinden, wer er ist, und seine Schuld festzustellen.« Sie wollte noch etwas sagen, stand aber unvermittelt auf, schaute auf Borodin herunter, lächelte und sagte ruhig und sanft: »Wissen Sie was, ich habe Hunger, es war ein turbulenter Tag, ich bin nicht einmal zum Mittagessen gekommen. Hier in der Nähe ist ein ganz gutes Lokal. Kommen Sie, ich lade Sie zum Abendessen ein.«
    »Nein, nein, ich lade Sie ein.« Borodin erhob sich energisch und nahm ihren Arm.
    Jewgenija trug ein leichtes Sommerkleid aus farbiger Seide. Borodin registrierte dankbar, dass ihre Sandalen flache Sohlen hatten. Er war einen halben Kopf kleiner als sie, und mit Absätzen wäre der Größenunterschied noch mehr aufgefallen.
    »Sagen Sie, Jewgenija, hat sich die ursprüngliche Diagnose eigentlich bestätigt?«, fragte Borodin.
    »Es gibt keine Diagnose.«
    »Was soll das heißen?« Borodin blieb abrupt stehen, zwinkerte verwirrt und sagte ziemlich laut: »Sie meinen, das Mädchen ist psychisch gesund?«
    »Wissen Sie, Ilja« – auch Doktor Rudenko war nun stehen geblieben –, »ein gewissenhafter Arzt kann kaum eine klare Grenze ziehen zwischen gesunder Dummheit, grober pädagogischer Vernachlässigung und krankheitsbedingter geistiger Zurückgebliebenheit. Debilität ist in gewisser Weise eben diese Grenze, genauer gesagt, das schwarze Loch, in das man guten Gewissens jede unklare Form angeborener intellektueller, emotionaler und moralischer Defizite werfen kann.«
    »Ja, ja, ich verstehe, darüber habe ich gelesen, aber trotzdem – Ljussja Kolomejez ist doch nicht normal.«
    »Wer ist schon normal?« Jewgenija zuckte die Achseln. »Wir beide? Stellen Sie sich das Leben eines Heimkindes vor und vergleichen Sie es mit Ihrer eigenen Kindheit. Klammern Sie einfach für einen Augenblick alles Schöne aus und lassen Sie nur das Allerschlimmste übrig.«
    Borodin nahm erneut Jewgenijas Arm, und sie gingen weiter.
    »Sie schließen also nicht aus, dass das merkwürdige Verhalten des Mädchens lediglich durch Schock verursacht wurde? Oder sie überhaupt nur simuliert?«
    »Warum sollte sie simulieren, wenn sie den Mord gesteht? Und ein Schock – der steht auch uns beiden bald bevor. Das spüren Sie ebenso wie ich. Sie sind wegen dieses Mordes nervös,weil Sie bisher keinerlei konkrete Anhaltspunkte haben, sondern nur ein Gefühl von Gefahr. Ob Ljussja von Geburt an behindert ist oder nicht, spielt keine Rolle. Sie hat nicht getötet, darum geht es. So, wir sind da.«
    Hinter einem niedrigen Zaun standen unter Pappeln zwei Tische vor dem Lokal, und beide waren frei. Jewgenija bestellte ein Schweineschnitzel mit Bratkartoffeln, was Borodin sehr verblüffte, denn er hatte geglaubt, eine solche Figur wäre nur bei strengster Diät zu halten. Er selbst begnügte sich mit einem Salat.
    Als der Kellner gegangen war, entstand ein verlegenes Schweigen. Borodin

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