Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Arbeit ihres Sohnes war nahezu das Wichtigste in ihrem Leben. Sie versäumte keine Gelegenheit, einen Blick in das unheimliche und geheimnisvolle Labyrinth seiner Ermittlungen zu werfen. Sie selbst war promovierte Kunsthistorikerin; hin und wieder musste sie die Urheberschaft namenloser Gemälde herausfinden, Gutachten erstellen und Fälschungen entlarven – darin ähnelte ihre Arbeit der ihres Sohnes. Sie liebte Denkaufgaben, und es gab für sie keine größere Freude als den aufmerksamen, konzentrierten Blick ihres Sohnes, wenn sie ihm beim Abendessen beiläufig einen hilfreichen Rat gab.
Lydia spürte, dass ihr Sohn sich im Augenblick in einer Sackgasse befand. Die Zeitschrift hatte offenbar irgendwie mit seinen Ermittlungen zu tun. Lydia blätterte erneut darin, sah sich die Seiten aufmerksamer an und entdeckte schließlich ganz am Ende ein kleines, von Ilja stammendes Bleistiftkreuz neben einem Namen in der Liste der redaktionellen Mitarbeiter, dem des stellvertretenden Chefredakteurs Oleg Solodkin.
Außer dem Magazin lag auf dem Schreibtisch ein Notizbuch mit sandfarbenem Umschlag. Lydia blätterte es langsam durch und stieß unter »S« auf denselben Namen: Oleg Solodkin.
Sie blieb eine Weile reglos am Schreibtisch sitzen. In ihrem Kopf kreiste der Name Oleg Solodkin. Es ist quälend, wenn einem ein Name bekannt vorkommt, man aber nicht mehr weiß, woher. Lydia wurde nervös, strengte ihr Gedächtnis an, sprang schließlich auf und rannte in ihr Zimmer. Sie nahm ein halbes Dutzend alter Notizbücher aus der Schublade und sah in allen unter »S« nach, fand jedoch keinen Solodkin.
Jewgenija Rudenko, Psychiaterin im Serbski-Institut, warteteauf einer Parkbank in der Nähe der Klinik auf Borodin. Sie konnte ihm über Ljussjas Zustand nichts Neues sagen, sie hatte ihm am Telefon bereits alles mitgeteilt, aber Borodin wollte sich trotzdem unbedingt mit ihr treffen, und sie hatte eingewilligt, vor allem, weil sie seine Sorge gut verstand. Wenn Ljussja nicht die Mörderin war, lief der wahre Täter noch frei herum – ein intelligenter, gerissener, schwer zu fassender Verbrecher. Obgleich Jewgenija in ihrem Leben schon einige Monster und moralische Krüppel gesehen hatte, wurde ihr beim Gedanken an diesen Jemand ganz kalt im Bauch. Sie spürte, dass dies erst der Anfang war, dass es weitere Opfer geben würde.
Sie ertappte sich ständig bei dem Gedanken, wie bequem es wäre, wenn die Ermittlungen ergeben würden, dass die achtzehn Messerstiche dem Opfer von dem psychisch kranken Mädchen beigebracht wurden. Dann wäre alles ganz einfach und logisch. Jugendliche mit angeborener Intelligenzminderung neigen häufig zu unmotivierten Wutanfällen. Sie kann durchaus wütend auf die Tante gewesen sein, weil diese sie nicht zu sich nahm – wer weiß, wie es ihr in dem Internat ging, das übrigens noch immer nicht ermittelt worden war und bei dessen Erwähnung Ljussja sofort verstummte. Vielleicht war sie dort sehr schlecht behandelt und gehänselt worden, und die Tante war der einzige Mensch gewesen, der ihre Lage hätte ändern können. Womöglich war ein heftiger Streit der Auslöser für ihre Aggression gewesen. Ljussja hatte von der Tante verlangt, sie zu sich zu nehmen, die Tante hatte sich geweigert, und das Mädchen war ausgerastet.
Ja, ganz simpel und logisch. Genauso hatte der Mörder kalkuliert, als er Ljussja dazu brachte, die Schuld auf sich zu nehmen.
Die von Jewgenija geleitete Expertenkommission hatte bislang noch keine Möglichkeit gehabt, Ljussjas Krankenakte einzusehen. Bis auf ihre Geburtsurkunde existierte kein einzigesDokument, und es gab keinen einzigen Erwachsenen, der etwas Konkretes über Ljussja Kolomejez mitteilen konnte.
Die erfahrenen Jugendpsychiater waren ratlos. Sie hatten eine dicke, verschreckte, stille Jugendliche vor sich. Auffällig waren ihre Plumpheit und ihre pubertätsbedingte Hässlichkeit, gravierende körperliche Mängel waren jedoch nicht festzustellen. Schädelform und -größe entsprachen der Norm, ebenso die Körperproportionen; ihre Sprache war deutlich und normal. Die vom Arzt des psychiatrischen Notdienstes schnell hingeworfene Diagnose «Oligophrenie im Stadium der Debilität« weckte nun ernsthafte Zweifel. Die Testergebnisse belegten, dass Ljussja ein normales Kind war, fähig zu abstraktem und bildhaftem Denken. Das ist bei Oligophrenie ausgeschlossen.
Natürlich war das Mädchen in der Entwicklung zurückgeblieben. Mit ihren fünfzehn Jahren las sie
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