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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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stockend wie eine Erstklässlerin, doch das konnte auch eine Folge pädagogischer Vernachlässigung und schlechten, unqualifizierten Unterrichts sein. Auf die Frage, wer ihr das Lesen beigebracht habe, hatte Ljussja ohne Zögern geantwortet: »Tante Lilja.«
    »Und wer noch?«
    »Jetzt keiner mehr.«
    »Und früher?«
    »Das weiß ich nicht mehr.«
    »Na schön, aber du gehst doch zur Schule?«
    »Manchmal.«
    »Und wie bist du in der Schule?«
    »Schlecht.«
    »Warum? Macht dir das Lernen keinen Spaß?«
    »Ich bin begriffsstutzig. Weil ich krank bin.«
    »Was hast du denn?«
    »Was Angeborenes.« »Woher weißt du, dass du krank bist?«
    »Na, weil ich Spritzen kriege, und überhaupt …
    »Wer gibt dir die Spritzen?«
    »Die Ärzte. Sie sind böse. Sie tun anderen gern weh.«
    »Wo war das? Im Krankenhaus?«
    Ljussja zwinkerte nervös, öffnete den Mund und wollte etwas sagen, brachte aber nur ein hastiges, heiseres Keuchen hervor.
    »Gibt Mama Isa dir Spritzen?«
    Doktor Rudenko hatte auf Borodins Bitte hin mehrfach versucht, das Gespräch auf die rätselhafte Mama Isa zu bringen, doch Ljussja reagierte darauf jedes Mal mit einer emotionalen Starre. Sie verstummte, nestelte nervös an irgendetwas herum, senkte den Kopf und wich Blicken aus.
    In der seit dem Mord inzwischen vergangenen Zeit hatte sich nichts geklärt, im Gegenteil, alles war noch verworrener geworden.
    Borodin entdeckte von weitem die einsame Gestalt auf der Bank und beschleunigte seine Schritte. Er hatte sich schon einen Begrüßungssatz zurechtgelegt: »Sie sehen großartig aus, Jewgenija«, fand dann aber, das klinge wie ein abgedroschenes Kompliment. Ich werde sie einfach begrüßen und ihr die Hand geben, sagte er sich ärgerlich. Guten Abend, Jewgenija. Entschuldigen Sie, ich bin ein wenig zu spät… Nein, Unsinn, ich bin überhaupt nicht zu spät. Sie ist früher gekommen. Warum wohl? Na darum, du alter Idiot, weil es von ihrem Institut bis hierher nur zehn Minuten sind und ihr Arbeitstag seit einer Stunde zu Ende ist, und statt eine überflüssige Dreiviertelstunde in ihrer traurigen Einrichtung zu verbringen, ist sie früher in den Park gekommen, um an der frischen Luft ein wenig auszuspannen. Es ist schließlich ein herrlicher Abend. Was denkst du denn? Dass sie es eilig hatte, dich zu sehen? Übrigens weißt du nicht einmal, ob sie womöglich verheiratet ist. Sie trägt keinen Ring, aber das hat nichts zu bedeuten. Ach was, komm zu dir, schau mal in den Spiegel! Du bist alt, dick und schwerfällig. Das ist doch einfach lächerlich.
    Jewgenija sah auf die Uhr, nahm Zigaretten aus der Tascheund zündete sich eine an. Sie hatte Borodin noch nicht bemerkt, und er wäre am liebsten stehengeblieben, um ihr Profil zu bewundern, ihren langen Hals und das glatte hellblonde Haar.
    Zu strenges Gesicht, zu strenge Frisur. Kurzgeschnittene, unlackierte Fingernägel. Sie arbeitet viel und denkt ausschließlich an ihre Arbeit. Eine hervorragende Fachkraft, die beste in der Jugendpsychiatrie, wie es heißt. Natürlich ist sie verheiratet, räsonierte Borodin schonungslos, eine alleinstehende Frau in ihrem Alter verhält sich anders. Die kuckt entweder begierig oder beleidigt, meist beides, schminkt sich auffallend, toupiert sich das Haar wie ein Sahnebaiser oder legt überhaupt keinen Wert auf ihr Äußeres, und auch das natürlich, um aufzufallen. Schluss jetzt, das ist wirklich lächerlich. Dies hier ist schließlich kein Rendezvous; und außerdem – sie raucht, und ich kann Tabakqualm nicht ausstehen.
    Als er Jewgenija schließlich erreicht hatte, fand er das Ganze nicht mehr lächerlich, sich selbst noch gar nicht so alt und auch nicht sehr dick und ihre Zigarette ganz leicht – ja, der Rauch roch sogar angenehm. Und überhaupt, es war herrliches Wetter, seine liebste Tageszeit, die Dämmerung, seine liebste Jahreszeit, Sommer, und Doktor Rudenko war schön, sogar sehr schön, und überdies klug. Das strenge Gesicht und die strenge Frisur zeugten vor allem von gutem Geschmack, Klugheit und gesundem Menschenverstand und keineswegs davon, dass sie verheiratet war. Und was spielte das letztendlich für eine Rolle? Er war schließlich ein vernünftiger Mann, konnte sich nüchtern beurteilen und wusste sehr gut, dass eine so schöne Frau sich niemals für ein angejahrtes Scheusal wie Oberleutnant Borodin interessieren würde …
    »Guten Abend, Jewgenija.« Er griff ungeschickt nach ihrer Hand – nach der linken, denn in der rechten hielt sie die

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