Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
Vernünftiges sagen.«
    »Sie waren schon optimistischer«, bemerkte Jewgenija. »Sie haben den Fall im Stillen wohl bereits abgehakt?«
    »Nein.« Borodin griff nach seiner Brieftasche, zählte siebenhundert Rubel ab und legte nach kurzem Überlegen noch zwei Zehner dazu. »Aber es gibt einfach zu viele Sackgassen.Verstehen Sie, wir haben nichts, absolut nichts, als wäre Ljussja vom Himmel gefallen.«
    »Aber sie ist doch bei ihrer Tante gemeldet. Vielleicht hat sie ja ständig dort gewohnt?«
    »Nein, nein, nein.« Borodin schüttelte den Kopf. »Lilja Kolomejez hat viel Zeit mit ihrer Arbeit verbracht, und ein solches Kind braucht Aufsicht und Pflege, und auch die Nachbarn sagen, das Mädchen sei erst vor kurzem aufgetaucht. Außerdem haben Sie selbst doch von pädagogischer Vernachlässigung gesprochen.«
    »Nun, der Begriff ist relativ. Bei Ljussja ist wirklich alles sehr merkwürdig. Irgendetwas an ihr lässt mich daran zweifeln, dass sie wirklich Waise ist und ihre Kindheit im Heim verbracht hat.«
    Sie standen auf und liefen zur Metro.
    »Bei diesem Mädchen ist alles irgendwie anders. Sie zeigt keinerlei Aggression, sie liebt alle, hat mit allen Mitgefühl, und das ist nicht gespielt. Sie ist sozusagen nicht von dieser Welt, und mir ist schleierhaft, wie ein solches Wesen unter den gräßlichen Bedingungen eines staatlichen Kinderheims überlebt haben soll. Ich würde sogar sagen, sie wirkt wie ein ausgesprochenes Hauskind, so zutraulich, offen und sanft.«
    »Aber Waisenkinder sind manchmal auch so«, erwiderte Borodin unsicher.
    »Selten. Und wenn sie geistig zurückgeblieben sind, so gut wie nie. Ein kranker Verstand ist selbstsüchtig. Er wird schwer mit dem Leben fertig, er ist auf sich selbst fixiert und kennt kein Mitgefühl. Ljussja dagegen spürt die geringsten Stimmungsschwankungen bei anderen, und das sieht man ihr an. Mir ist schon bei unserem ersten Gespräch aufgefallen, dass Ljussja nicht lügen kann, sie wiederholt gewissenhaft Wort für Wort, was man ihr eingeredet hat, und verschweigt vermutlich, was sie verschweigen soll. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass sie nicht nur die fremden Worte wiederholt,sondern auch die fremde Intonation. Wenn sie sagt: ›Ich habe Tante Lilja getötet‹, dann verändern sich ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck. Ich weiß, das hilft uns nicht weiter. Aus Ljussjas Gesichtsausdruck lässt sich kein Phantombild des Täters gewinnen.«
    Sie waren schon in der Metrostation. Auf der Rolltreppe stand Borodin eine Stufe tiefer. Er sah Jewgenija von unten herauf an und platzte plötzlich heraus: »Darf ich Sie noch zu mir einladen?«
    Sie schaute rasch auf die Uhr und murmelte: »Wie dumm, sie ist stehengeblieben. Die Batterie. Wie spät ist es?«
    »Halb elf«, antwortete Borodin und spürte, dass er errötete. »Ja, ich weiß, es ist schon spät, Sie müssen morgen zur Arbeit, und ich auch.«
    »Ja, ich muss morgen wirklich sehr früh aufstehen. Gute Nacht, Ilja. Rufen Sie an, wenn Sie noch Fragen haben. Mein Zug!«
    Sie sprang in die sich bereits schließende Tür, die Metro fuhr ab, und Borodin sah zu, wie die weißen Lichter im dunklen Tunnel verschwanden.

Achtes Kapitel
    In der Trauerhalle des Krematoriums waren nur wenige Personen versammelt: einige Kollegen aus der Spielzeugfabrik, angeführt von der Sekretärin Natascha, die Nachbarn, Liljas uralte Zeichenlehrerin und Ferdinand Lunz. In dem schwarzen Anzug mit dem kragenlosen Jackett und dem schwarzen Rollkragenpulli sah er aus wie ein Missionar. Er blieb am längsten vor dem Sarg stehen und betrachtete die Tote lange unverwandt. Bevor er seinen Strauß aus sechs großen zartrosa Rosen ablegte, presste er die Lippen auf die Hand der Toten und verharrte einige Sekunden reglos. Hauptmann Kossizki trat näher heran und vernahm ein pfeifendes Flüstern: »Es hat alles sein Gutes, Lilja, siehst du, jetzt bist du vollkommen frei. Verzeih mir, wenn du kannst.«
    Unter den Klängen von Mozarts Requiem und dem leisen Schluchzen von Natascha und einer älteren Nachbarin sank der Sarg langsam ins Dunkel. Dann gab es eine peinliche Unterbrechung, weil die nächste, sehr zahlreiche Trauergemeinde bereits unaufgefordert in den Saal drängte. Es waren vor allem kräftige, stiernackige Männer in teuren, gutsitzenden Anzügen. Kossizki erkannte einige einschlägige Kriminelle. Plötzlich ertönten im entstandenen Gedränge verzweifelte, hohe Schreie: »Wo wollt ihr hin, ihr Schweine? Könnt ihr nicht warten? Raus

Weitere Kostenlose Bücher