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Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Das Haus der bösen Mädchen: Roman

Titel: Das Haus der bösen Mädchen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Datschasiedlung hatten die Solodkins längst vergessen, dass es so etwas wie Vorortzüge gab. Die benutzten nur die Dienstboten. Von Raïssa wusste Xenia, dass man zu Fuß bis zur Bahnstation anderthalb Stunden brauchte und am Wasserturm von der Chaussee auf einen Feldweg einbiegen musste. Weiter ging es am Fluss entlang, durch das Dorf Sykowka, dann übers Feld. Der Bahnhof sei nicht zu verfehlen, man höre die Züge schon von weitem, außerdem stünde dort ein alter Feuerwachturm, den sehe man, sobald man Sykowka passiert habe.
    Von der Bahnstation her zog eine dunkle Wolke herauf, dicht und graulila wie ein riesiger blauer Fleck.
    Das Gewitter überraschte Xenia auf offenem Feld. Es gab nirgends einen Unterschlupf. Sie konnte Mascha nur mit ihrer Windjacke schützen. Xenia rannte fast, der Rucksack schlug schmerzhaft gegen ihren Rücken, in ihren Turnschuhen quietschte Wasser.
    »Eine Erkältung hätte uns gerade noch gefehlt«, murmelte sie, leckte sich Regentropfen von den Lippen und wischte Mascha mit der Hand das nasse Gesicht ab.
    Sie merkte gar nicht, dass sie fast nie in der ersten Person an sich dachte. Im fünften Schwangerschaftsmonat, als sie die heftigen, starken Bewegungen ihres Kindes spürte, hatte sie zum ersten Mal »wir« gesagt. Später wurde ihr das zur Gewohnheit.
    Geschickt sprang sie über eine Pfütze.
    Sobald Xenia den Bahnsteig erreicht hatte, hörte der Regen auf, die Wolken wurden dünner und lösten sich in durchsichtige Federwölkchen auf. Die Sonne hatte die Wipfel des Waldes am Horizont noch nicht erreicht, sie hing am Rand einer dünnen Wolke, als wollte sie jeden Augenblick herunterfallen.
    Im leeren Zug holte Xenia einen trockenen Strampler und ein Jäckchen aus dem Rucksack, breitete eine weiche Flanellwindel auf der Bank aus und zog Mascha um. Dann streifte sie ungeniert ihr T-Shirt ab und zog ein trockenes an, schlüpfte aus den Schuhen, streckte die nackten Beine aus, setzte sich bequem hin und stillte Mascha. Bald schlief Mascha ein und schmatzte noch im Schlaf weiter. Xenia zog einen dünnen amerikanischen Fantasyband in grellem Umschlag aus ihrem Rucksack und döste unversehens ein.
    Auf dem Bahnhof in Moskau nahm sie ein Taxi. Der Fahrer, ein älterer, gesprächiger Mann, erkundigte sich als Erstes nach Xenias Alter. Daran war sie gewöhnt. Manchmal wurde sie gefragt, ob das Baby in der Trage ihr Brüderchen oder ihr Schwesterchen sei.
    »Recht so«, bemerkte der Taxifahrer, »lieber früh Kinder kriegen, dann hat man das ganze Leben noch vor sich.«
    »Hier bitte rechts, dann wieder rechts, auf den Hof.«
    Als sie gegangen war, sah der Fahrer ihr nach und bezweifelte, dass sie wirklich schon neunzehn war.
     
    »Das Komische ist: Er hat kein Alibi«, sagte Kossizki düster und nahm einen Schluck starken, süßen Tee.
    Borodin trommelte auf der Tischplatte herum und schüttelte den Kopf.
    »Hast du das gründlich überprüft?«
    »Na ja, soweit möglich. Die Nachbarn in der Gemeinschaftswohnung haben ihn am sechsten Juni gegen sieben Uhr abends das letzte Mal gesehen. Er verließ die Wohnung mit den Worten, er wolle zu Klara, also zu seiner künftigen Frau, und dort übernachten. Und wissen Sie, was das Interessante daran ist? Die Nachbarn versichern, er habe früher nie mitgeteilt, wohin er gehe. Und nun tut er das plötzlich, obwohl ihn niemand gefragt hat. Klara war gar nicht in Moskau, sie hat zwei Tage auf der Datscha einer Freundin verbracht. Es ist also ungewiss, wo Ferdinand den Abend und die Nacht verbracht hat.«
    »Und was sagt er selbst?«
    »Er behauptet, er hätte bei Klara übernachtet. Die Nachbarn haben ihn weder gesehen noch gehört. Es ist zwar keine Gemeinschaftswohnung, aber die Wände sind dünn. Und noch ein interessantes Detail: Er war noch nie in Klaras Abwesenheit in deren Wohnung. Natürlich hat er einen Schlüssel, aber angeblich kann er sich nicht allein dort aufhalten. Sagt jedenfalls Klara.«
    »Als sie zurückkam, fand sie also in ihrer Wohnung keinerlei Spuren seiner Anwesenheit vor?«, vergewisserte sich Borodin.
    »Keine, bis auf ihn selbst. Sie kam am siebten gegen ein Uhr mittags nach Hause. Er schlief, was sie wunderte. Er stehtnormalerweise sehr früh auf. Klara glaubte sogar, ihr Liebster sei krank. Er sah wirklich schlecht aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.«
    »Nicht geschlafen«, wiederholte Borodin nachdenklich. »Was hat er denn gemacht?«
    »Nichts. Er wurde von Schlaflosigkeit gepeinigt. Und zwar

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