Das Haus der bösen Mädchen: Roman
nun findet sie diesen Brief. Das Weitere kann ich mir gut vorstellen. Sie versucht, die Wahrheit zu ergründen, und wie das endete, wissen wir.«
»Sie wollen also sagen, der Mörder wurde von der Frau beauftragt, die in dem Brief erwähnt wird?« Borodin lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ist das nicht etwas zu kompliziert für einen Auftragsmord? Achtzehn Messerstiche …«
»Ja, wahrscheinlich haben Sie recht.« Ferdinand nickte gleichgültig. »Lilja wurde von einem wildfremden Psychopathen getötet.« Er presste die Lippen zusammen und schwieg eine Weile. Sein Gesicht wirkte wie erstarrt, er dachte besorgt über etwas nach und rief plötzlich mit lauter Fistelstimme: »Beantworten Sie mir bitte eine Frage: Wurde sie vergewaltigt?«
»Nein.« Borodin schüttelte den Kopf. »Sie wurde zuerst mit einem Handkantenschlag betäubt. Vermutlich von jemandem, der Karate beherrscht. Sie können doch auch Karate und wissen, dass ein Hieb gegen die Schlagader tödlich sein kann. Ich verstehe nur nicht, wieso dann noch die achtzehn Messerstiche.« Er versuchte, Ferdinands ausweichenden Blick einzufangen. »Und warum Lilja einem wildfremden Psychopathen die Tür geöffnet hat.«
»Nein, sie hat bestimmt keinem Fremden aufgemacht.« Lunz nickte ergeben. »Sie war sehr vorsichtig. Wahrscheinlich hat das verrückte Mädchen ihn eingelassen.«
»Aber wie hat der Fremde Ljussja dazu gebracht, die Schuld auf sich zu nehmen?«, murmelte Borodin nachdenklich. »DasMädchen behauptet noch immer steif und fest, sie habe ihre Tante getötet – wie ein Zombie. Das kann nur jemand erreicht haben, den sie sehr gut kannte, dem sie vertraute – der Mann, von dem sie schwanger war. Sie hatte nämlich im Krankenhaus eine Fehlgeburt. Übrigens, wissen Sie etwas über das Internat, in dem Ljussja lebte?«
»Nur, dass es irgendwo außerhalb von Moskau ist. Lilja fuhr immer mit der Vorortbahn hin. Mehr weiß ich nicht.«
»Von welchem Bahnhof?«
»Vom Kiewer«, sagte er rasch, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein?«
Ferdinand schüttelte wortlos den Kopf.
»Wie oft fuhr sie dorthin? In welcher Stimmung kam sie zurück?«
»Oft, glaube ich. Und was die Stimmung angeht …« Er verdrehte die Augen und nestelte an seinem schmutzigen Taschentuch herum. »Ihre Stimmung war übel. Von Mal zu Mal schlimmer. In letzter Zeit erkannte ich, wenn ich sie anrief, schon an ihrer Stimme, dass sie gerade von dort zurückgekehrt war. Aber das lag vielleicht an ihren übertriebenen Schuldgefühlen. Sie betrachtete sich fast als Verräterin.«
»Sagen Sie, hat Olga Kolomejez jemals von Suizid gesprochen?«
»Wovon? Ach so, ja, ich verstehe. Sie hat nicht nur davon gesprochen. Sie hat das Thema regelrecht kultiviert, besonders in der Pubertät. Die Wand über ihrem Bett hat sie vollgehängt mit Bildern von Marina Zwetajewa, Jessenin und Majakowski, aber nicht, weil sie so für Lyrik schwärmte, sondern weil die sich alle umgebracht haben. Das war ihr einziges Kriterium. In der achten Klasse hat sie ein ungeheuerliches Spektakel inszeniert, übrigens auch mit einem Fenstersprung. Und wissen Sie, weshalb? Wegen Jeans! Sie wollte unbedingt echte amerikanische Markenjeans haben. Sie schrieb einen Abschiedsbrief, schuld an ihrem Tod sei ihre Mutter, weil sieihre jüngste Tochter nicht liebe; sie pappte die pathetische Botschaft mit Klebeband an den Kühlschrank und stieg aufs Fensterbrett, als drei Leute in der Küche waren, darunter auch Ihr ergebener Diener. Sie wurde natürlich heruntergeholt. Später gab es da noch eine unglückliche Liebesgeschichte. Sie war unsterblich verliebt in einen Klassenkameraden. Sie schrieb mit Lippenstift an den Spiegel: ›Ich sterbe, weil ich einen Schuft mit einem Herzen aus Stein liebe!‹ Lilja fand sie mit einer Rasierklinge in der Hand auf dem Wannenrand. Aber das alles bestätigt nur, dass jemand bei ihrem Fenstersprung nachgeholfen hat. Wer ständig mit Selbstmord droht, macht nie Ernst, der will nur Aufmerksamkeit erregen, will, dass alle ihn bedauern, sich um ihn kümmern und so weiter. Ich weiß nicht, ob sie selber gesprungen ist oder nicht, einerseits ja, anderseits nein, und überhaupt, das Ganze ist zehn Jahre her, wie es wirklich war, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Es lebt keiner mehr, der etwas dazu sagen könnte.« Ferdinand sprach immer undeutlicher, als sei er plötzlich furchtbar müde. Die Erregung war der Apathie gewichen.
»Ich sehe, Sie sind
Weitere Kostenlose Bücher