Das Haus der bösen Mädchen: Roman
die Augen zusammen. »Jedenfalls, sie konnten sich nicht einigen. Die Frau ging zur Toilette und heulte dort vorm Spiegel eine Weile. Aber das wissen Sie schon, Sie haben ja mit unserer Putzfrau Marussja gesprochen.«
»Wie sah er aus?«, fragte Kossizki.
»Um die vierzig, vielleicht etwas älter«, begann der Kellner und überlegte, »ungefähr eins achtzig groß. Nicht dünn, aber auch nicht dick, so mittel. Helles, sehr schütteres Haar.«
»Glatze?«
»Nein. Die Haare waren nur sehr dünn, wie Kükenflaum. Große dunkelbraune, hervorquellende Augen. Kleine Nase, so eine Knöpfchennase, wissen Sie. Das Gesicht groß und rund. Der Kopf war überhaupt ziemlich groß, aber der Hals dünn wie bei einem Rachitiskind. Dicke Lippen… Ja, was noch? Er war teuer, aber nachlässig gekleidet. Weißer Sommeranzug, unter dem Jackett ein blaues T-Shirt. Sehr tiefe Stimme, ein richtiger Bass. Und ein ruiniertes Nervenkostüm. Er sah überhaupt ziemlich ungesund aus. Seine Hände zitterten, obwohl er nicht betrunken war. Das hätte ich am Geruch gemerkt.«
»Vielleicht Drogen?«
»Gut möglich. Aber was ist denn nun mit der Frau? Das haben Sie mir gar nicht gesagt.«
»Sie wurde ermordet«, brummte Kossizki. »Achtzehn Messerstiche.«
Der Kellner stieß einen leisen Pfiff aus und schüttelte den Kopf.
»Na, die muss ihn ja sehr genervt haben.«
Nein, der Mann, mit dem sich Lilja im Café getroffen hat, ist nicht der Mörder. Er ist wahrscheinlich der Vater des Mädchens. Aus den Gesprächsfetzen zu schließen, ist das Schicksal des Mädchens ihm nicht gleichgültig. Wir müssen ihn finden. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Brief, den Lilja in der Tasche der alten Strickjacke gefunden hat, und dieser Begegnung. Stop! Also hat Lunz nicht gelogen? Sie hat den Zettel gefunden und war schockiert. Natürlich, so etwas kann durchaus einen Schock auslösen – nach zehn Jahren plötzlich zu erfahren, dass der Tod der Schwester kein Selbstmord war. Dass da jemand nachgeholfen hat. Eine gewisse Frau, deren Namen sie nicht nennt. In dem Brief ist die Rede von Geld. Auch der Mann im Café hatte Lilja Geld angeboten. Wollte sich jemand von den beiden Schwestern loskaufen?
Kossizki blieb abrupt stehen. Ganz von selbst entstand eine neue, überraschende Hypothese, die ihm viel glaubwürdiger und einleuchtender erschien als die, Ferdinand Lunz für den Täter zu halten.
Der schmächtige Mann zögerte an der Schwelle des Büros und schloss sehr langsam und vorsichtig die Tür, als habe er eine Heidenangst vor jedem lauten Geräusch. Aber die Tür knallte dennoch zu, und der Mann zuckte zusammen und entschuldigte sich.
»Guten Tag, Ferdinand, kommen Sie herein, setzen Sie sich.« Borodin lächelte aufmunternd.
Während er das schmale Gesicht mit der Höckernase und dem durchscheinenden, irgendwie unpassenden Bärtchen betrachtete, versuchte er, sich diesen komplexbeladenen überaltertenJungen am Tatort vorzustellen, ein Messer mit rhombenförmiger Klinge in der Hand – kein sehr überzeugendes
Bild.
»Entschuldigen Sie«, murmelte der Besucher und platzierte sich ungeschickt auf der Stuhlkante. »Nennen Sie mich doch bitte Fjodor, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»In Ordnung, Fjodor.« Borodin nickte. »Versuchen Sie sich bitte zu erinnern, wie Sie den Abend und die Nacht vom sechsten zum siebten Juni verbrachten.«
»Die Nacht, in der Lilja ermordet wurde?« Ferdinand lächelte verstehend. »Ihr braver Hauptmann hat mich also mit Vergnügen in den Kreis der Verdächtigen eingereiht. Bei welcher Uhrzeit soll ich anfangen?« Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und holte Zigaretten aus der Tasche. »Sie erlauben?«
»Aber bitte. Beginnen Sie um sechs Uhr.«
Ferdinand zündete sich eine Zigarette an, sah sich nach einem Aschenbecher um und schien ein wenig beruhigt, als er einen entdeckt hatte.
»Gegen sechs kam mein Nachbar Wladimir Gnobenko vorbei und wollte zwanzig Rubel von mir. Ich gab sie ihm nicht, denn Gnobenko ist ein starker Trinker, und seine Frau hat mich gebeten, ihm kein Geld zu geben. Mein Zimmer ist faktisch leer, also sah Gnobenko die Wodkaflasche sofort. Sie war noch mehr als halbvoll.«
»Sie trinken auch?«
»Manchmal, aber nicht viel. Ihr Hauptmann hat mich bestimmt für einen Alkoholiker gehalten. Im Übrigen ist es mir egal, was Ihr Hauptmann meint. Also, am Abend des sechsten Juni versuchte ich, Gnobenko loszuwerden. Er war an diesem Abend besonders aufdringlich. Der Wodka, den ich ihm anbot,
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