Das Haus der bösen Mädchen: Roman
schlug heiser und gemächlich zehn. Nirgends brannte Licht, nur das Esszimmer war vom blassen Schein des Fernsehschirms erleuchtet. Es lief ein amerikanisches Vorkriegsmelodram.
Raïssa räumte den Tisch ab und ging hinaus in den Garten. Der Himmel war klar, rötlich schien der Vollmond. In derHängematte schimmerte eine zusammengekrümmte schwarze Silhouette, die eher aussah wie ein Haufen Lumpen als wie ein Mensch.
»O Gott«, flüsterte Raïssa, rannte ins Haus, stapfte mit schweren Schritten die Treppe hinauf und öffnete die Tür. Im Zimmer war es dunkel. Mit gedämpfter Stimme rief sie: »Xenia!«
Niemand antwortete.
Ein paar Sekunden lang verharrte sie unentschlossen auf der Schwelle, ihr Herz pochte immer heftiger, das Atmen fiel ihr schwer. Ein leichter Wind bewegte die Gardine, ein breiter Mondstrahl fiel auf das leere Kinderbett. Keuchend lief Raïssa zurück, stolperte über die Schwelle vor der obersten Treppenstufe, verlor das Gleichgewicht und rollte kopfüber hinunter.
»Ja, ich erinnere mich gut an diese Frau.« Der Kellner nickte, nachdem er einen kurzen Blick auf das Foto von Lilja Kolomejez geworfen hatte. »Sie trug ein rosa Kleid und roch nach dem Parfüm ›Diorissimo‹. Ist ihr was passiert?«
»Warum fragen Sie das?«
»Weil Sie von der Miliz sind.« Der Kellner betrachtete Kossizki mit solcher Neugier, als hätte er noch nie einen Milizionär gesehen. »Und weil ich fast sicher war, dass ihr irgendwas zustoßen wird.«
»Kannten Sie sie?«, fragte Kossizki erstaunt.
»Nein, überhaupt nicht.« Der Kellner machte ein listiges, geheimnisvolles Gesicht. »Aber es stimmt doch, oder?«
»Was?«
»Dass die Frau, die auf unserer Toilette ihren Betriebsausweis verloren hat, ernsthaft in Schwierigkeiten ist. Richtig?«
»Schwierigkeiten ist gut. Na, dann erzählen Sie mal, woran Sie sich erinnern.«
»Das war am fünften Juni kurz nach zwölf. Wir hatten gerade aufgemacht. Erst kam der Mann im weißen Anzug, kurzdarauf sie. Sie waren verabredet, aber ich würde nicht sagen, dass sie sehr erfreut waren, sich zu sehen. Ihre Unterhaltung dauerte etwa eine halbe Stunde und war ziemlich heftig. Ich habe nur Bruchstücke davon mitgekriegt. Die Frau wollte mehrmals aufstehen und gehen, aber er ließ sie nicht weg. Ich hatte den Eindruck, dass es um ein Kind ging. Die übliche banale Geschichte, wissen Sie. Geschiedene Eheleute, sie lässt ihn das Kind nicht sehen. Etwas in der Art. Komisch nur, dass sie ihm mit Gericht drohte. Vielleicht wegen der Alimente?«
»Moment, das erzählen Sie bitte mal genauer.«
»Das kann ich nicht.« Der Kellner schüttelte den Kopf. »Erstens habe ich nicht die Angewohnheit, die Gespräche unserer Gäste zu belauschen, und zweitens verstummten sie sofort, wenn ich an den Tisch trat. Obwohl, es ging wohl nicht um Alimente. Da war irgendwas anderes. Er hat ihr eine Zeitschrift mitgebracht, ein dickes Hochglanzmagazin. Den Titel konnte ich nicht erkennen, aber er sagte: ›Hier, das hab ich dir mitgebracht, damit du siehst, wo ich arbeite.‹ Sie blätterte darin und fand einen Umschlag mit Geld.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich hab gesehen, wie sie hineinschaute. Es waren Dollarscheine, ein hübsches Sümmchen. Aber sie zählte sie gar nicht, sondern reagierte sehr seltsam.«
»Nämlich?«
»Sie rief empört: Steck das sofort weg! Wir haben nichts zu bereden! Dann sprang sie auf und wollte gehen.«
»Was ist daran seltsam?«
»Na hören Sie mal!« Der Kellner kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. »Wer verzichtet denn heutzutage auf Geld? Ein Bestechungsversuch war das bestimmt nicht, so wirkte das Verhältnis der beiden nicht. Das war irgendwas Familiäres. Sie sprach schlecht über seine Mutter, ich glaube, sie wollte nicht ihn verklagen, sondern seine Mutter. Wenn Sie mich fragen – dass er ihr Geld angeboten hat,kann doch nur heißen, dass er Dreck am Stecken hat. Jedenfalls – er wollte ihr Geld geben, aber sie hats nicht genommen, war sogar beleidigt. Vielleicht wars ihr zu wenig?« Der Kellner zwinkerte. »Ach ja, er hat dauernd gefragt, was denn passiert sei, warum sie zehn Jahre lang zufrieden war und nun auf einmal klagen wolle. Getrennt haben sie sich auch sehr seltsam. Sie sagte immer wieder: Du tust mir leid, aber trotzdem – komm nicht mehr. Und er saß da und murmelte ihr hinterher: ›Miststück, Zicke, ich hasse sie …‹ Und machte dabei ein entsprechendes Gesicht.«
»Nämlich?«
»Sehr böse.« Der Kellner kniff
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