Das Haus der bösen Mädchen: Roman
Seufzen.
»Ein junger Mann hat vor dem Krankenhaus auf mich gewartet und gefragt, ob ich Ljussja kenne. Ich hab gesagt, ja, die kenne ich, ich will gerade zu ihr.«
»Und dann?«, hauchte Ljussja und strich mit den Fingerspitzenvorsichtig über die Pralinenschachtel. »Was hat er noch gesagt?«
»Er hat gefragt, wie es dir geht. Er lässt dich von Mama Isa grüßen. Er sagt, du bist ein gutes Mädchen, du hast keine Schuld. Du hast Tante Lilja nicht getötet. Du kannst jetzt erzählen, wie es wirklich war. Alles, woran du dich erinnerst, kannst du erzählen.«
»Das hat er zu Ihnen gesagt?«, fragte Ljussja, krampfhaft schluckend.
»Natürlich. Oder weiß etwa sonst noch jemand davon?«
»Nein … Keiner. Und wo ist Tante Lilja?« Das Mädchen atmete plötzlich hastig und schwer, Tränen rannen ihr übers Gesicht, ihre Schultern bebten. »Rufen Sie sie an, sie soll mich nach Hause holen, bitte, ich will nicht zu Mama Isa!«
Die Pralinenschachtel fiel zu Boden, aber das bemerkte Ljussja nicht. Sie hatte einen richtigen hysterischen Anfall.
Jewgenija saß neben ihr und streichelte ihr Haar. Ljussja weinte und jammerte, sie schien ganz in sich versunken, in schreckliche, unerträgliche Erinnerungen.
»Nein, nicht! Du tust ihr weh, bitte, lass sie! Ich gebe alles raus, ich weiß, wo es ist, aber tu ihr nicht weh!«
Jewgenija bedauerte, dass sie kein Diktiergerät zur Hand hatte. Sie versuchte, sich jedes Wort einzuprägen. Ljussjas Gestammel mochte wie Fieberwahn wirken, enthielt aber wertvolle Informationen.
»Tante Lilja! Meine liebe, gute, bitte, mach die Augen auf! Warum hört sie mich nicht? Nein, ich habe sie nicht getötet … Ich weiß nicht … Mir war schlecht … Ich erinnere mich nicht … Warum ich? Verzeih mir, Ruslan … Wird sie wieder gesund? Ja, ich verstehe, wenn ich sage, dass ich sie getötet habe, wird sie wieder gesund. Ich habe Tante Lilja getötet … Ich habe sie getötet … Geh nicht weg, Ruslan, hilf ihr …« Dann folgte ein grässlicher, unterdrückter Schrei. Ljussja verdrehte die Augen und sank aufs Bett.
Jewgenija wischte ihr mit einem Papiertaschentuch das Gesichtab, beugte sich zu ihr hinunter und fragte leise: »Hat Ruslan dich geschlagen?«
»Mein Hals tut weh«, flüsterte das Mädchen mit geschlossenen Augen.
»Jetzt auch?«
»Rufen Sie Tante Lilja.« Sie riss die hellbraunen Augen weit auf und starrte die Ärztin an. Ihr Blick war verschreckt und ohne eine Spur von Irrsinn. »Ich habe alles getan, was ich sollte, damit Tante Lilja wieder gesund wird. Sie soll herkommen.«
»Wer hat dir denn gesagt, was du tun sollst?«
»Der gute Loa.«
»Wer ist das?«
»Das ist ein guter Geist, der die Toten wieder lebendig macht. Wenn ein Mensch stirbt, ist das nur wie Einschlafen, und dann wacht er auf und ist jung, gesund und stark, und er lebt sehr lange und wird nie krank. Wenn man auf Loa hört, ist er gut und macht einen Toten wieder lebendig, wenn man ihn darum bittet.« Das alles erklärte sie in raschem, pfeifendem Flüsterton, klar und ohne Stocken, wie auswendig gelernt.
»Wie sieht er denn aus, dieser Loa?«, erkundigte sich Jewgenija vorsichtig.
»Gar nicht. Man kann ihn nicht sehen.«
»Wie kann man dann mit ihm reden?«
»Er kriecht manchmal in einen Menschen und spricht durch ihn.«
»Er ist also in dich gekrochen?«
»Nein, in mich nicht, ich bin böse und dumm. Loa liebt die Gesunden und Klugen, die Sport treiben. Den Ruslan, den mag er sehr, Ruslan ist so schön und stark. Sie haben ihn ja gesehen, er hat Ihnen die Pralinen für mich gegeben.«
»Ja, natürlich. Loa ist also in Ruslan gekrochen, hat Tante Lilja getötet und dir aufgetragen zu sagen, dass du sie getötethast«, sagte Jewgenija langsam und spürte, wie ihre Hände kalt wurden und es ihr eiskalt über den Rücken lief.
»Loa ist gut, aber streng«, sagte Ljussja nachdenklich, »er tut immer das Beste für den Menschen. Es sieht nur so aus, als ob er tötet. In Wirklichkeit ist das eine Prüfung für die Menschen. Ich zum Beispiel, ich bin dumm, darum musste ich diese Prüfung bestehen und allen sagen, dass ich Tante Lilja getötet habe. Aber nun bin ich gereinigt. Nun ist das böse Blut aus mir raus, und ich werde gut.«
»Ist aus Tante Lilja auch das böse Blut raus?«
»Natürlich.« Ljussja lächelte breit und freudig, »aber das dürfen Sie niemandem erzählen.«
»Gut, ich erzähle es niemandem«, versprach Doktor Rudenko und fragte unvermittelt: »Erinnerst du dich an deine
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