Das Haus der bösen Mädchen: Roman
nicht. Bitte, schicken Sie schnell einen Einsatzwagen her. Es ist dringend, ich bin hier ganz allein auf dem Hof. Er kann jeden Moment herauskommen, er hat einen Wohnungsschlüssel.«
»Wieso hat er einen Schlüssel?«, erkundigte sich der Diensthabende kühl.
Das Gespräch dauerte mindestens drei Minuten, der Diensthabende unterzog Xenia einem regelrechten Verhör und wiederholte mehrfach wütend, bei dem Lärm könne ernichts verstehen. Schließlich versprach er ärgerlich, einen Einsatzwagen zu schicken.
Kaum hatte aufgelegt, da verspürte Xenia einen erneuten Anfall von Panik. Der nächtliche Besucher hatte sich längst aufgerappelt, das Bad verlassen und würde jeden Augenblick aus der Haustür kommen. Es wurde schon hell, er würde sie auf dem menschenleeren Hof sofort entdecken, und wer weiß, was in seinem Einbrecherhirn vorging. Sie rannte zum Spielplatz. Neben Schaukel und Sandkasten stand dort eine ziemlich wacklige Holzkonstruktion aus Rutsche, Treppe und einem kleinen Häuschen dazwischen. Xenia jagte die lückenhafte Treppe hinauf, wobei sie einen Pantoffel verlor, und sah im selben Augenblick die Haustür aufgehen. Auf dem schmutzigen Holzboden hockend, gab sie Mascha die Brust. Aber das Kind lehnte empört ab. Ein anständiges Kind trinkt nicht mit schmutzigem Po, und das versuchte die drei Monate alte Mascha ihrer begriffsstutzigen Mama, die, statt sie sauberzumachen und umzuziehen, mit ihr in den Hof gelaufen und auf die Rutsche geklettert war, lautstark klarzumachen.
»Sei still, Maschenka, bitte, bitte«, murmelte Xenia, während sie durch ein winziges Fenster beobachtete, wie der Mann an der Haustür stehenblieb und den Hof absuchte.
Erschöpft vom eigenen Geschrei, wurde Mascha leiser, schluchzte krampfhaft und sah ihre Mama aus tränennassen Augen gekränkt an. Der nächtliche Besucher stand noch immer an der Haustür, anstatt abzuhauen, stand da und schaute sich um, auf der Suche nach Xenia – wohl kaum, um sich bei ihr zu entschuldigen und zu erklären, warum er in eine fremde Wohnung eingedrungen war. Ringsum war weiter keine Menschenseele. Der Hof war wie ausgestorben. Xenia schien es, als halte der Blick des Fremden bei dem Holzhäuschen inne, und echter, brennender Schmerz zog ihr Inneres zusammen, so dass sie kaum noch Luft bekam. Ihr war, als schauten sie einander direkt in die Augen; zwischen ihnenlagen höchstens fünfzig Meter. Er trug eine kleine Sporttasche über der Schulter und hielt in der rechten Hand etwas, das aussah wie eine Pistole.
»Unsinn, Mascha, Einbrecher haben keine Waffe«, flüsterte Xenia und schüttelte bekräftigend den Kopf.
Mascha hörte auf zu schluchzen und gähnte herzhaft.
»Er ist doch kein Idiot«, flüsterte Xenia weiter, »er muss doch wissen, dass ich längst die Miliz angerufen habe und dass gleich ein Einsatzwagen hier ist. Und dann machen wir beide eine Zeugenaussage. So, Schluss jetzt, er muss los. Hörst du, du musst los, du Schwachkopf, nun mach schon, bitte, nun geh doch …«
Vielleicht hatte der letzte Satz etwas zu panisch geklungen, denn anstatt einzuschlafen, verzog Mascha bedrohlich den Mund. Normalerweise ging ihrem Schreien eine feierliche, vielsagende Pause voraus. Sie dauerte etwa eine Minute. Xenia sah den Mann ruhig und entschlossen auf die Rutsche zukommen, und nun erkannte sie deutlich, dass er tatsächlich eine Pistole in der Hand hielt.
Mascha brüllte los, und ganz in der Nähe heulte eine Sirene auf. Der Mann mit der Pistole erstarrte und rannte dann direkt auf die Rutsche zu. Als er die Treppe erreichte, verlor Xenia ihn aus dem Blick, aber sie spürte ihn und drehte sich mit dem Gesicht zur Bretterwand, Mascha mit ihrem Körper schützend. Das Häuschen schwankte. Xenia spürte das trockene Knacken mehr, als dass sie es hörte.
Sie wusste nicht, wie lange das Ganze dauerte. Das Heulen der Sirene verstummte allmählich. Nun war nur noch Maschas Weinen zu hören. Der Mann mit der Pistole war weg. Xenia schaute vorsichtig hinaus. Der Hof war leer. Xenia fühlte, dass sie nicht aufstehen konnte – eine scheußliche, zitternde, geleeartige Schwäche hatte sie erfasst. Sie begriff, dass die Sirene nicht die des Milizautos gewesen war, jedenfalls nicht die des Wagens, auf den sie wartete. Wahrscheinlich nur ein zufällig vorbeifahrender Krankenwagen, der über den Hofin die Nachbargasse gerast war. Sie musste sich entscheiden, was besser war – in ihrem unsicheren hölzernen Versteck zu bleiben und auf den
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