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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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zweiten Augustwoche, kamen Waldemar und Andrzej zur Datsche hinaus, und Helenas Tage hellten sich auf. Andrzej war gerade ins Kadettenkorps eingetreten und brachte sie alle damit zum Lachen, daß er die russischen Offiziere nachäffte.
    Ungefähr zur Mittagszeit beluden sie jeden Tag ein Pony mit Eßsachen und zogen mit ihm durch den Wald zur See. Es gab dort eine Stelle mit einem kurzen Steg, wo man schwimmen konnte.
    Helena, Waldemar und Florian saßen oberhalb des Wassers nebeneinander auf dem Erdwulst, der über die Felsen ragte. Andrzej schwamm, und vom Wasser wehte ein kühler Wind.
    »Petersburg verändert sich«, sagte Waldemar.
    Helena sah ihn an. »Was ist passiert?«
    »Versammlungen, andauernd diese Versammlungen. Niemandist glücklich über den Krieg. Ständig dieses Gerede gegen die Zarin und Rasputin. Letzte Woche habe ich drei meiner Betriebsleiter entlassen müssen, weil sie ein Arbeiterbündnis organisierten.«
    »Vor einem Jahr hast du selbst noch Arbeiterbündnisse organisiert!« verspottete Florian seinen Bruder.
    »Du hast ja keine Ahnung, Florian.«
    »Heuchler!«
    »Was weißt du vom wirklichen Leben? He? Du stopfst dir bloß den Kopf voll mit deinen Planeten und sinnlosen Summen . . .«
    Florians Augen verengten sich; er stand schwerfällig auf. Mit stierem Blick schaute er auf Waldemar, auf Helena, dann verschwand er im Wald. An dem Tag bekam niemand mehr ihn zu Gesicht.
    Der nächste Morgen war heiter und kühl. Um das Haus lag dick der Tau. Helena ging nach dem Frühstück hinaus, hielt sich aber an die Straße, damit ihre Schuhe trocken blieben. Die Wiesengräser hingen voller Altweiberfäden; in der Frühsonne funkelten sie wie Wasser.
    Ein kleines Stück unterhalb des Hauses traf sie auf Florian. Er lächelte und grüßte sie mit einer angedeuteten Verbeugung. »Panna Helena.«
    Er wirkte ruhig, und Helena empfand ein merkwürdiges Mitleid mit ihm. Sie hätte ihm gern geholfen. »Was ist los, Florian?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Irgend etwas ist los. Sag’s mir.«
    Er brach von einer Lärche einen toten Ast ab. Sie sah zu, wie er ihn in zwei Teile knickte; dann zerbrach er die zwei Stücke in vier, und so immer weiter, bis die Stücke schließlich zu klein waren, als daß man sie noch weiter hätte zerbrechen können. Er warf sie weg.
    »Was ist, Florian?« wiederholte sie.
    »Du bist es, Hela.«
    Sie sagte nichts.
    »Ich liebe dich.«
    »O bitte, nein!«
    »Ich möchte dich heiraten.«
    »Nein!«
    »Warum nicht?« Sein Blick war wild.
    »Darum nicht.«
    »Ist es Andrzej? Würdest du Andrzej heiraten?«
    »Ich weiß nicht. Er hat mich nicht gefragt.«
    »Aber wenn er dich fragen würde?«
    Helena zuckte die Schultern. »Vielleicht.«
    Florian blieb abrupt stehen. Er ballte die Hände zu Fäusten, lockerte sie wieder und starrte stumm auf seine Handflächen.
    Helena drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn stehen. Es war Zeit für Miss Gardner.
    Später am selben Vormittag fand ein Finne Florian in einem Farnstreifen hinter dem Dorf. Neben ihm im Gras standen Pilze. In der rechten Hand hielt er Andrzejs Dienstrevolver; der Lauf steckte in seinem Mund.
    Der Adlerfarn rings um seinen Körper fing gerade an, sich herbstlich braun zu verfärben.
     
    Helena sagt in ihrem Bericht nichts über ihre Reaktion auf Florians Selbstmord. Sie erzählt lediglich, daß Tante Ziuta   – seine Mutter   – sie als erstes umarmte und zu ihr sagte: »Es war nicht deine Schuld, mein Liebling, und jeder, der das behauptet, bekommt es mit mir zu tun.«
    Sie hoffte auf Trost von Andrzej, doch beide merkten sie, daß sich etwas verändert hatte. Auch als sie wieder in Petersburg waren, war es nicht mehr dasselbe. Die Augenblickedes Schweigens zwischen ihnen waren verschattet und angespannt. Florian war immer da, so wie er es im Leben gewesen war.

12.
    I m Herbst
1916 gab es viele Streiks. Die Tore der Petersburger Gießereien und Tuchfabriken blieben oft geschlossen. Gruppen von Arbeitern versammelten sich davor, wärmten sich die ausgestreckten Hände über Kohlenbecken. Bei den Docks standen gewisse Männer auf umgedrehten Fischkörben und hielten Reden über Dinge, die nur wenige ihrer Zuhörer zu verstehen schienen. Die Tage wurden kürzer; die Reden länger.
    Manchmal waren berittene Polizeitrupps überall in der Stadt postiert. Sie führten lange Spieße mit sich und trugen Überzieher, die sich über den Sätteln bauschten. Die Pferde stampften ungeduldig, aus ihren Nüstern dampfte der Atem.

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