Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
Vom Netzwerk:
begann es dem Mann gegen den Kopf zu schlagen. Der Kopf sackte vornüber. Jemand zog ihn am Haar nach hinten. Sie schlugen auf ihn ein, bis er tot war.
    Helena vergaß diese Szene nie; nie den Blick seiner Augen, nie sein Blut im Schnee. Es war der Augenblick, in dem die Welt für sie endgültig ihre Unschuld verlor.
     
    Eine Zeitlang herrschte in der Stadt Chaos. Helena verließ das Haus nicht, nicht einmal um ihren Vater zu besuchen. Tekla kam nach stundenlanger Lebensmittelsuche oft nur mit einem einzigen Brotlaib oder etwas eingelegtem Gemüse zurück. Sie fütterte sie mit den neuesten Gerüchten   – daß das Regiment der Wolhynier gemeutert hatte, daß Chabalow einen Gegenangriff vorbereitete, daß das Kadettenkorps den Winterpalast verteidigte, daß der Zar fort war; daß der Zar abgedankt hatte.
    Und dann kehrte wieder eine Art Ordnung ein. Die Straßenbahnen und Busse fuhren wieder, und einige wenige Lebensmittel fanden den Weg in die Läden. Helena nahm ihren Unterricht wieder auf, und ihre Kanzlisten kamen wieder, einer nach dem anderen, abgemagert, mit schmalerem Grinsen, bis sie schließlich wieder dreiundzwanzig waren. Sie beendeten die
Water Babies
und gingen zu Kipling über.
    Eines Nachmittags   – es war ein Samstag, und die Linden überzog ein zarter Grünschimmer   – ging Helena über das Marsfeld nach Hause. Sie erinnerte sich an die dunklen Wolken über ihr und an das elastische Knirschen des Schnees unter ihren Füßen. Sie hatte die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. In einer Ecke am anderen Ende des Geländes erblickte sie eine Menschenansammlung. Davor stand ein Mann auf einer Holzkiste. Er trug keinen Hut, die Kälte schien ihm nichts anzuhaben. Sie näherte sich und konnte einzelne Worte ausmachen:
    »Jeder Mensch ist Herr seines Geschicks . . . Er muß seinSchicksal selber gestalten und das seines Landes zu gestalten helfen . . . Eure Zeit ist gekommen . . .«
    Wieder zu Hause, fand sie Onkel Augustus vor dem Kachelofen stehen.
    »Onkel.« Sie reckte sich, um ihm einen Kuß zu geben, und fing dann an, sich die Handschuhe auszuziehen. »Auf dem Marsfeld hat heute ein komischer Mann geredet. Aber was für eine schöne Stimme er hatte! Und er schien sehr intelligent zu sein!«
    »Wer war es?«
    »Angeblich heißt er Lenin.«
    Aber die Lage hatte sich nicht wirklich gebessert. Noch immer lungerten überall Männer mit finsterem Blick herum, noch immer wurde auf den Straßen geschossen. Wenn Helena mit einer Feldflasche mit Teklas Gemüsebouillon zur Wohnung ihres Vaters lief, sah sie in den Toreinfahrten häufig Leichen, die man dort hingeworfen hatte wie Abfall.
    Auch ihr Vater war nach wie vor in beunruhigend labiler Verfassung. Helena verbrachte die Sonntagnachmittage bei ihm. Wenn er Schmerzen hatte, hielt er sich einen handtuchumwickelten Samowar an den Magen. Sobald die Schmerzen nachließen, schlief er ein. Sie beobachtete ihn beim Schlafen. Sie lauschte auf die französische Uhr aus Goldbronze, die Stunde um Stunde läutete. Immer kam der Punkt, wo seine Hände vom Samowar herabsanken, sein Kopf auf eine Seite rutschte und die Haut um die Wangen weicher wurde; dann schien er für eine Weile friedvoll zu sein.
     
    Im April nahm Tante Ziuta Helena in ein Ballett im Marientheater mit. Obwohl sich in der Stadt vieles in Auflösung befand, war der Zuschauerraum voll, die Aufführungmakellos. Für Helena hatte das Ganze kaum etwas von einem Spektakel an sich   – ohne Seidengewänder und Juwelen, ohne Großfürsten, ohne Jussupow.
    Hinterher kam auf dem Theaterplatz eine
babuschka
auf sie zu. Sie hatte blaue Augen und Maulwurfsfinger. Einen davon stieß sie nach Helena. »Ich habe einen Hut für dich, Mädchen, einen Trauerhut aus Krepp.« Sie stopfte Helena ein Stück Papier in die Hand.
    Tante Ziuta führte Helena weg. »C’est rien. La femme est folle.«
    Später glättete Helena den Papierfetzen. Eine Adresse stand darauf, irgendwo hinter dem Theater. Mehrere Tage danach machte sie sie im vierten Stock eines rußgeschwärzten Hauses ausfindig. Im Hausflur war ein Rohr leck, und das Wasser tröpfelte unablässig den Treppenschacht hinunter. Die Zimmer waren voller Menschen, die auf Strohmatratzen lagen. Sie wollte schon wieder gehen, als ihre
babuschka
mit einem Hut in der Hand über eine Reihe von Schlafenden auf sie zuhumpelte.
    »Ihr Hut, Fräulein. Ich habe ihn für Sie gemacht.«
    »Aber ich brauche keinen Hut.«
    »Sie werden ihn brauchen«, sagte sie lachend,

Weitere Kostenlose Bücher