Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
Vom Netzwerk:
Kollegium begann das Gerücht umzugehen, dieser Mann, dieser schneidige Achtundvierzigjährige, sei in Wirklichkeit ihr Verlobter.
    Sie tat nichts, um das in Abrede zu stellen. In ihrer Gegenwart nannte sie ihn Józef. Er wiederum gewöhnte sich an, ihr Geschenke mitzubringen, Pralinen oder Blumen; bisweilen warf er sich in Uniform, und Miss Sanders flüsterte Helena zu: »So ein gutaussehender Mann. 1917 wird Ihr Jahr, Miss O’Breifne, ich weiß es! Eine wunderschöne Frühlingshochzeit!«
    Mr.   Pike legte ihr onkelhaft den Arm um die Schulter und warnte sie vor Männern, die »Schürzenjäger und Schufte« seien.
    Doch unterdessen wurde Helenas Vater immer schwächer. Weihnachten gaben sie ein Fest in ihrer Wohnung, und er kam und saß in einer Ecke. Mit zwanzig Personen war die Wohnung voll. Sie machten sich über die zwei Gänse her, die Tekla irgendwo aufgetrieben hatte. Laute Trinksprüche und lautes polnisches Singen erfüllten die Räume.
    Auf dem Höhepunkt des Fests sah Helena sich um und stellte fest, daß ihr Vater fehlte. Sie ging in die hinteren Räume und fand ihn in ihrem Zimmer. Er saß auf ihremBett, über einen Eimer gebückt, und erbrach sich. Er versuchte das lachend herunterzuspielen: »Die Ärzte haben mir gesagt, daß mein Magen sich verengt. Die Lösung ist ganz einfach, Hela, ich muß nur weniger essen!«
     
    »Geschichte«, hatte Tante Ziuta an einem jener Sommerabende an der Moika gesagt, »ist wie ein Hase, der im Gebüsch wartet.«
    Jetzt war es Winter. Die Moika war zugefroren. Petersburg pflügte sich durch die Eiswüsten des neuen Jahres. Die Sonne schien gelb auf der Unterseite der Wolken. Manchmal wehte ein scharfer Wind, er blies heftig über die leeren Plätze und suchte in den Straßen nach lockerem Schnee. Schlitten fuhren hin und her und hielten nur widerwillig an; niemand ging einkaufen, da es nichts zu kaufen gab. Die Newa, auf der erst etwa einen Monat zuvor Rasputin durchs Eis gerammt worden war, erstreckte sich gleich einem weißen Niemandsland durch die Stadt. Berittene Polizei hatte die Brücken abgeriegelt; entfernte Rufe hallten vom Fluß her. Der Hase wartete im Gebüsch.
    Im Februar wurde Helenas Englischklasse immer kleiner. Sie lasen
The Water Babies
von Kingsley, und aus den dreiundzwanzig grinsenden Kanzleibeamten wurden zwanzig, dann fünfzehn, dann zehn. Auf dem Newskij Prospekt wurde geschossen, und danach erschienen nur noch fünf; und an einem Tag, als es heftig geschneit hatte und die Straßen voller Truppen waren, schaffte es nur noch einer durchzukommen, Iwanienko, ein ernster Russe aus dem Uralgebiet. Er zog einen Topf Himbeermarmelade aus dem Mantel und gab ihn Helena. »Oh Miss! For you the jam! You must not go to hunger . . .«
    In dem Augenblick wurde die große Eingangstür aufgestoßen,und Helenas Vater stand außer Atem auf der Schwelle. »Schnell, Hela . . . In den Straßen wird gekämpft . . .«
    Draußen hörte man Artilleriefeuer. Gruppen von Männern rannten durch die Straßen; einige waren mit Eissplittern von der Moika bewaffnet.
    Die drei hasteten aus der Schule. Sie überquerten offene Plätze, Kreuzungen, passierten mit Brettern vernagelte Geschäfte und vereiste Straßenbahnen; sie kamen Straße für Straße voran, Einfahrt für Einfahrt. Helenas langer Rock war steif vom Schnee und schwang wie eine Glocke gegen ihre Filzstiefel. Die beißende Kälte griff ihren Rachen an.
    »Schnell!« redete ihr Vater ihr gut zu. Aber auch er hatte Schmerzen. Er hielt sich die Seite. Iwanienko lief voraus, den Topf Himbeermarmelade fest gegen die Brust gepreßt, und hielt an jeder Ecke erst nach Barrikaden Ausschau.
    Auf einer Brücke über den Gribojedowkanal standen drei Männer auf einem Lastschlitten. Sie sprachen zu einer kleinen Schar von Arbeitern und Soldaten mit Gewehren. Einige feuerten in die Luft. Iwanienko hielt einen Arm vor Helena und hielt sie auf. Sie gingen ein Stück zurück.
    Auf der Rückseite des Gostinyj Dwor stolperten sie über eine Gruppe, die rote Fahnen hielt. Jemand sang die Marseillaise. Iwanienko drückte Helena in eine Einfahrt. Die Männer hatten einen Halbkreis um einen Polizeioffizier zu Pferde gezogen und brüllten ihn an. Er versuchte, seinem Pferd die Sporen zu geben, aber er war umzingelt. Einer aus der Gruppe erwischte die Zügel, und die anderen zerrten ihn aus dem Sattel. Der Offizier rutschte ab. Er versuchte wegzulaufen, aber sie stießen ihn zu Boden. Einer packte ein etwa faustgroßes Stück Eis und

Weitere Kostenlose Bücher