Das Haus der Bronskis
Farbblöcke mit verzerrten vogelscheuchenähnlichen Figuren. Helena sah ihm oft beim Malen zu. Sie bewunderte die Sorgfalt, die er auf etwas verwendete, das im Ergebnis so langweilig war. Er hielt ihr Interesse für Bewunderung, und als er in einer Sondermission nach Rom abreiste, schenkte er ihr ein Bild von den Jüngern, wie sie durch ein Kornfeld gehen.
»Wie hübsch«, rief sie aus, »Boote auf einem herrlichen gelben See!«
Helena führte ihre Lehrtätigkeit fort. Sie gab zwei »geistig minderbemittelten« jungen russischen Fürstinnen Englischstunden.Dabei entdeckte sie ihre lebenslange Unduldsamkeit gegenüber dem Mittelmaß. Eines Oktoberabends kamen die Fürstinnen in Tränen aufgelöst zu ihr.
»O Helena! Wir müssen noch heute abend abreisen!«
»Wohin?«
»Fort!« sagten sie.
»Wohin fort?«
»Wissen wir nicht.«
»Warum müssen Sie denn abreisen?«
»O Helena, das wissen wir nicht!«
Typisch für sie, diese Antworten, dachte sie.
Doch der Grund stellte sich sehr schnell heraus. Ein paar Tage später, noch in derselben Woche – die Bäume waren kahl und bis auf die Krähen war alles nach Süden entflogen –, übernahmen die Bolschewisten in Minsk die Macht.
Über Nacht veränderte sich die Stadt. Männer mit roten Armbinden füllten die Straßen, spuckten Sonnenblumenkerne in den Rinnstein. Der bolschewistische »Gouverneur« kam zu Onkel Bischof und forderte ihn auf, Minsk zu verlassen. Der weigerte sich, und eines Nachts zerschossen sie die Fenster der Kathedrale mit Maschinengewehren. Am Tag danach scharten sich sämtliche Polen in Minsk um das Gebäude, und die Bolschewisten, die sich ihres Rückhalts noch nicht sicher waren, ließen sie in Ruhe.
Onkel Bischof grübelte über das Problem nach. Er beschloß, einen Empfang zu geben. Er lud die Polen ein und den bolschewistischen »Gouverneur«. Niemand rechnete damit, daß er käme, doch er tat es, ein jugendlicher Mann mit runden Brillengläsern, begleitet von zwei Kommissaren. Sie bemühten sich, die roten Seidenroben der Damen und ihren Schmuck nicht anzustarren, nicht die dreieinhalbMeter hohe Schusterpalme in der Zimmerecke und nicht die staubige Autorität, die die Porträts in dem Raum ausstrahlten. Sie gingen früh.
Das Fest zog sich bis weit in die Nacht hinein. Die Trinksprüche wurden weitschweifiger, der Gesang wurde lauter, das Tanzen schneller. Der Kurat fiel hinter ein Sofa. Helena tanzte gerade mit einem entfernten Vetter, als sie Medeksa im Eingang entdeckte. Doch bevor sie zu ihm hingelangen konnte, hatte Onkel Bischof ihn schon aufgefordert zu gehen.
Am nächsten Tag traf während des Frühstücks ein Brief ein, und das Eßzimmer füllte sich mit Apfelblütenduft. Helenas Mutter nahm den Brief, zerriß ihn und streute die Fetzen ins Feuer. »Dieser Mann ist nichts für dich, Helena.«
Den ganzen Winter hindurch schmiedete Helena Pläne, wie sie ihn sehen könnte; aus keinem wurde etwas. Sie sah ihn einzig bei der Abendmesse, wo er eine Bank hinter ihr saß, seine Augen in ihrem Nacken. Doch ihre Mutter war immer dabei, und es war nicht möglich mit ihm zu reden. Sowieso, schreibt sie, sei sie viel zu sehr mit Beten beschäftigt gewesen, als daß sie etwas hätte wahrnehmen können.
Außerhalb der Kirche wurde sie zunehmend zerstreut. Sie starrte in ihre Bücher, als wären sie auf urdu geschrieben. Sie lernte einen gütigen Priester kennen, Vater Rostowski, der ihr genau zuhörte und dann sagte: »Die Liebe ist wie Efeu, Panna Helena; sie wächst auch durch die dicksten Mauern.«
Vater Rostowski ging der Fall zu Herzen. Er traf sich mit Medeksa und sagte seine Hilfe zu. Er trug das Dilemma Onkel Augustus vor. Aber Onkel Augustus war sein Bischof und gebot ihm, sich nicht einzumischen; er beschuldigte ihn, sich zu benehmen wie ein Bolschewist, wie ein Trotzki der Familienangelegenheiten.
Helena jedenfalls war entschlossener denn je. Nach einer komplizierten Folge von Briefen, die über Panna Konstancja liefen, stahl sie sich eines Nachmittags aus dem Haus und traf Medeksa am Fluß.
Es war ein strahlender Wintertag. Unter ihrem dicken Mantel trug sie ein Sommerkleid; in seinem Knopfloch steckte eine Orchidee. Sie saßen zusammen auf einer Bank. Ringsum im Park spitzte das Gras durch Streifen von Eis; an den Bäumen zeigten sich winzige Knospen. Sie redeten über alles, über Essen und Musik, über Petersburg und Gott, über die Bolschewisten und Verlaine. Sie lachten unbeschwert, und Helena fühlte sich voll
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