Das Haus der Bronskis
Helena, kam die nächste große Gedächtnislücke. Sie erinnerte sich weder an die Beerdigung noch an die letzten Tage in Petersburg, noch an den Güterzug, der sie in Eile fortbrachte. Sie hatte nur das Bild von sich selbst vor Augen, wieder in Piesków – eine teilnahmslose Gestalt in Schwarz, zu müde, um auch nur ein Wort von Dickens’
A Tale of Two Cities
in sich aufzunehmen, das ungelesen in ihrem Schoß lag.
13.
H elena verbrachte
den größten Teil des Sommers 1917 in Piesków, etwas nördlich von Minsk. Über diese Zeit schreibt sie:
Wenn ich an jenen Sommer denke, sehe ich nicht die Ungewißheit vor mir, nicht den Schock unserer Flucht aus Petersburg, nicht einmal die Schwermut wegen meines Vaters Tod. Nein, es sind die sonnigen Tage, die Säulen des alten Herrenhauses, das Licht im Wald, wie es durch die Bäume fällt, das nächtliche Murmeln des Bachs und die Bank, auf der ich damals saß und den wieder und wieder gesagten leidenschaftlichen Worten der Verzückung und Liebe aus dem Mund des liebenswürdigen und gutaussehenden Medeksa lauschte.
Mit der Ankunft in Piesków setzten Helenas turbulenteste Jahre ein. Die Deutschen und Russen kamen und gingen; die Grenzen wechselten wie die Gezeiten, schwemmten die Menschen in andere Städte, andere Länder. Helena schildert Fuhrwerke und Fahrten durch den Wald und Nächte in jüdischen Herbergen. Doch etwas hatte sich gewandelt. Die Fahrten waren anders als die Flucht 1915. Die war ein Abenteuer gewesen. Jetzt war die Welt ein dunklerer Ort. Jeder, den Helena gekannt oder geliebt hatte, war entweder im Krieg versprengt oder tot.
Ihre Mutter, nun Witwe, verhärtete sich. Sie gewöhnte sich an, schwarzen Kaffee zu trinken und türkische Zigarettenzu rauchen. Sie war sehr darauf aus, daß Helena heiratete, konnte aber nicht ertragen, sie in männlicher Gesellschaft zu sehen. Helena schwor sich oft, sich von ihrer ganzen Familie loszusagen und ohne sie, ohne Verehrer allein in einer Hütte im Wald zu leben, umgeben von Hunden, Pferden und wilden Bienen.
Doch Medeksas Worte der Verzückung und Liebe waren sehr angenehm – so angenehm, daß Helena nach mehrwöchigem Lauschen überzeugt war, irgendeine Sünde begangen zu haben.
Medeksa war »alt« – über achtundzwanzig. Er hatte in den Rot-Kreuz-Einheiten in der Bukowina gedient und war nun in einem Kriegslazarett bei Piesków stationiert. Er war sehr belesen, in englischer wie französischer Literatur, und wenn die Rede auf Lyrik kam – was immer der Fall war –, zitierte er lange Passagen aus Baudelaires
Les fleurs du mal
oder Rimbauds
Une saison en enfer
. Er wußte, daß nur Worte der Schlüssel zu Helenas Herz waren.
Mit der Zeit kam ihre Mutter dahinter. Sie war sehr zornig.
Helena beruhigte sie. »Es ist alles in Ordnung, Mama . . .«
»Was soll das heißen, ›alles in Ordnung‹? Der Mann ist nicht vertrauenswürdig!«
»Ich werde ihn heiraten.«
»Was?« Sie zog heftig an ihrer Zigarette. »Man heiratet keinen Arzt!«
Die scharfe Reaktion ihrer Mutter brachte sie Medeksa nur näher. Er ging dazu über, ihr lange Briefe aus dem Lazarett zu schreiben, die er immer mit einem englischen oder französischen Verspaar einleitete und mit Apfelblüten parfümierte.
Im September erklärte ihre Mutter, sie zögen nachMinsk. Es sei dort sicherer, sagte sie. Sicherer bei Onkel Augustus.
Auch er war vor dem wachsenden Chaos in Petersburg geflohen. Er war jetzt Bischof, und man hatte ihm in Minsk ein großes Haus in der Nähe der Kathedrale zur Verfügung gestellt. Es war ein schönes Haus, die Mauern bedeckt vom Gefieder wilden Weins, die hohen Räume von bischöflicher Pracht. Doch in jener dunklen Zeit wirkte es seltsam verlassen. Helena hatte immer das Gefühl, daß jemand fehlte, daß sie die Tür aufgestoßen und sich einfach Eintritt verschafft hätten.
Sie waren ständig hungrig. Jeder war hungrig. Dieser Winter war sogar noch schlimmer als der letzte. Sie versammelten sich im Eßzimmer und wußten, wenn Onkel Bischof das Tischgebet sprach, daß das, wofür sie Gott dankten, bestenfalls ein paar Würfel Pferdefleisch waren.
Helenas Großmutter war auch bei ihnen. Sie vergaß so gut wie alles und verbrachte ihre Zeit damit, friedlich summend im Empfangszimmer zu sitzen und braune Flanellhemden für die Armen zu nähen.
Am anderen Ende des Hauses wohnte ein junger Kurat, hoch aufgeschossen und dünn wie eine Pappel. Er malte Szenen aus dem Leben Christi: große
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