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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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nahm die Kupons aus Helenas linker Hand und ließ sie mit dem Hut stehen.
    Unterdessen ging es ihrem Vater immer schlechter. Er konnte nicht einmal mehr Teklas Brühe bei sich behalten. Die Ärzte entschlossen sich, ihn zu operieren, und am 10.   Mai   – dem 27.   April nach dem alten Kalender   – wurde er in ein großes Militärkrankenhaus gebracht. Helena, ihre Mutter, Onkel Augustus und Panna Konstancja warteten draußen.
    Der Nachmittag war schon halb vorbei, als der Chirurg herauskam. Er lächelte; die Operation war erfolgreich verlaufen.Helenas Vater wurde auf einer Bahre hinausgerollt, und sie warteten darauf, daß er aufwachte.
    Nach einer halben Stunde schlug er die Augen auf. Er drehte den Kopf Helena und ihrer Mutter zu und lächelte. Dann fiel er wieder in Schlaf. Kurz darauf öffneten sich seine Augen plötzlich erneut. Diesmal sah er überrascht aus. Der Professor stürzte zu ihm. Er faßte sein Handgelenk, beugte sich über seine Brust. Er rief nach einer Krankenschwester, und gemeinsam hämmerten sie auf seine Brust. Dann kniff der Professor den Mund zusammen und zog seinem Patienten das Laken über das Gesicht.
    Helenas Mutter starrte auf die Bahre. Sie hatte sie zuvor im Traum gesehen, nach seinen »Besuchen« in ihren frühen Ehejahren. Diese flüchtigen Begegnungen hatten sie immer mit solchem Abscheu erfüllt, daß sie danach blind war, und das einzige, was diese Dunkelheit aufbrechen konnte, war dies: die Vision von ihrem Mann, wie er, nunmehr unschädlich, in ein weißes Leichentuch gewickelt auf einem Tisch lag.
     
    In Polen war es Sitte, die Toten zu Hause aufzubahren und eine
chapelle ardente
abzuhalten, zu der Angehörige und Freunde kommen und beten konnten, bevor der Verstorbene begraben wurde.
    Helena hätte gern eine
chapelle ardente
gehabt, aber ihre Mutter lehnte es ab. »Die Zeiten sind gefährlich, Liebes. Wir lassen das besser.«
    Den ganzen nächsten Tag blieb Helena in der Wohnung. Sie saß da und trennte die Stickerei auf einem Kissen auf; Liki zwitscherte über ihrem Kopf. Gegen Abend konnte Panna Konstancja es nicht mehr mit ansehen. Sie nahm sie beiseite und sagte ihr, wo ihr Vater lag.
    Der
dwornik
schob die Eichentür auf. Es war zehn Uhrnachts und sehr kalt. Sie zog sich das wollene Schultertuch über den Mund und hastete den Kanal entlang. Niemand sonst war auf der Straße.
    An diesen Weg hatte Helena nur verschwommene und bruchstückhafte Erinnerungen. Mechanisch folgte sie der Strecke. Sie überquerte die Newa, der Mond war im kabbeligen Wasser in Stücke zerbrochen. Dann war da ein weißbärtiger Nachtwächter, der sie unter freundlichem Gemurmel in einen Raum mit niedrigem Gewölbe und schlichten, in Nischen verborgenen Altären einließ.
    Der Raum war voller Leichen. Sie lagen auf Steinsockeln und Tischen; sie lagen zwischen den Tischen auf Bohlen und losen Laufbrettern. Einige waren in Laken und Sackleinen gewickelt, andere hatten noch ihre Kleider an.
    »Konterrevolutionäre!« flüsterte der alte Mann.
    Ihr Vater lag in einer Ecke für sich. Er war noch immer in das Kliniklaken gewickelt. Sie nahm eine Kerze, setzte sich zu ihm und legte eine Hand auf das Laken. Der Kattun fühlte sich auf ihrer Haut warm und klebrig an. Ihre Fingerspitzen waren voll frischem Blut. Sie sprang auf. »Sehen Sie doch, er blutet! Er lebt!«
    Der Nachtwächter ging zu ihr und schüttelte den Kopf. Er ließ Helena mit einer Handvoll Kerzen zurück, und sie saß die ganze Nacht da. Immer wieder döste sie kurz ein. Dann schlief sie richtig, und als sie aufwachte, waren die Kerzen heruntergebrannt, und die Schatten hatten sich zurückgezogen. Die Dämmerung war in dieses dumpfe Gelaß eingedrungen, und das Gesicht ihres Vaters war grau.
    Die Wärter kamen die Treppen herunter. Sie gingen zum Waschbecken hinüber und schwatzten, während sie sich die Unterarme schrubbten. Dann zogen sie die Toten von den Sockeln herunter auf Steinplatten.
    Wie betäubt sah Helena zu, wie die Leichen gewaschen wurden. Wie betäubt sah sie Tekla eintreten und Panna Konstancja und Onkel Augustus, der in einer der höhlenartigen Nischen die Totenmesse sprach. Sie blieb reglos auf ihrem Hocker sitzen, unfähig, irgend etwas anderes wahrzunehmen als das blasse schöne Gesicht Tante Janienkas, die sich vor dem Altar verneigte, und ihre träge, katzenhaft geschmeidige Art sich zu bewegen: dies war die Frau, die ihr den Vater genommen hatte. Es war das einzige Mal, daß sie sie sah.
    Und dann, schreibt

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