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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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abwenden. Sie ritt im Lager herum, bis sich eine Gruppe von Frauen um sie bildete, die an ihren Röcken zogen und um Kleider und Essen bettelten.
    Schweigend ritt sie mit dem Major zurück. Sie fühlte sich wie betäubt. Dann wurde sie zornig, dann wild entschlossen. Sie würde ein Komitee ins Leben rufen! Sie würde bei allen wohlhabenden Polen Spenden sammeln! Onkel Augustus würde Rom um Hilfe bitten! Sie selbst würde lernen, Kranke zu pflegen, zu verbinden, zu impfen, sie würde lernen, Arzneien zuzubereiten und auszugeben   ... und dann dachte sie an Medeksa.
    »Ich habe einen ganzen Tag damit verbracht, den Brief zu schreiben«, berichtet sie in ihren Aufzeichnungen. »Ich erzählte ihm von meinen Plänen; gestand demütig meine Fehler ein; sprach von der zeitlosen Würde, andere zu pflegen; ich sagte ihm, ich würde gern wie er meine Mitmenschen ärztlich behandeln und darüber alt werden. Ich sagte ihm, daß ich ihn liebte und daß es mir gleich war, was meine Familie dachte. Ich schrieb den Brief wieder und wieder, schwächte ihn ab, verstärkte ihn, bis ich den Umschlag schließlich versiegelte und ihn an sein Lazarett schickte.«
    An dem Abend aß sie nichts. Sie wußte, daß sie sich praktisch festgelegt hatte, Medeksa zu heiraten   – falls er noch Interesse an ihr hatte. Sie blickte sich am Tisch um, blickte auf ihre Mutter und den Bischof, den langen Tisch, das Silber, die Porträts und dachte: dies könnte der letzte Abend sein.
    Und so war es auch. Am nächsten Morgen klopfte es um sieben Uhr früh an die Tür. Es war der deutsche Major. »Wir haben Nachricht von einem bolschewistischen Aufstand. Sie müssen auf der Stelle abreisen!«
    Helena erwog zu bleiben, aber als sie die Geschwindigkeit sah, mit der ihre Mutter packte, wußte sie, daß sie ihr folgen mußte   – so wie sie es immer getan hatte.
    Vom Zug aus sah sie Minsk am Fenster vorübergleiten; sie schaute auf die Kirchtürme und Villen, die Straßenbahnen und Pflastersteine; sie sah, wie die Stadt niedrigen Hügeln wich, und die Straßen, die sich in die Ferne wanden. Dann fuhr der Zug in den Wald, und die Bäume versperrten ihr die Sicht. Helena sah weder Minsk noch Medeksa jemals wieder.

14.
    E s war Frühsommer
1918, als Helena und die O’Breifnes in Wilna eintrafen. Minsk, Medeksa, St. Petersburg, Helenas Vater   – zahllose Städte und Übernachtungen   – lagen hinter ihnen. Sie hatten nichts mitgebracht. Sie waren Flüchtlinge wie alle anderen. Sie waren Flüchtlinge seit jenem Tag 1915, als Helena die prämierten Pferde ihrer Großmutter die Mała Pohulanka hatte herauftraben sehen, auf der Flucht vor den Deutschen. Das war in Wilna gewesen. Der Kreis hatte sich geschlossen.
    Aber noch immer war nichts entschieden. Die Bolschewisten waren im Anzug, und die Deutschen zeigten Zeichen von Schwäche. Zwischen beiden hatte sich ein Streifen nichtbesetzten und halbbesetzten Gebiets aufgetan. Wilna lag in diesem Gebiet.
    Sie waren gerade erst ein paar Tage in Wilna, als Helenas Mutter verkündete, sie würden abreisen: auf den
dwór
einer Großtante   – ein Haus mit pompösen weinroten Zimmern und einem Garten so trostlos wie Schnee. Nach einer Woche kehrten sie nach Wilna zurück; es war die Rede von Warschau, von Krakau, doch am Ende fuhren sie wieder auf den
dwór
der Tante, wo, wie Helena schreibt, ihre Mutter »den ganzen Tag in dieser Gruft von Salon saß und rauchte«.
    Ein paar Wochen danach fing Helena zunehmend häufiger den Namen Platków auf   – das war das Haus ihrer Großeltern, in dem sie aufgewachsen war, und mit dem Namen kam die Erinnerung an all ihre entschwundenen Vorkriegsgewißheiten.
    Eine Woche später brachen sie nach Platków auf. Die Fahrt   – auf Karren   – dauerte fünf Stunden. Das Haus selbst war sehr heruntergekommen. Helenas Großeltern hatten es 1915 verlassen. Von den Wänden blätterte die Farbe, und an Dutzenden von Stellen trat das Mauerwerk zutage. Szymon, Platkóws Verwalter seit Menschengedenken, war tot. Tot war auch sein Hund Zółtaik. Die Ställe waren leer. Die Zuchtpferde in Rußland verloren. Nur Ewa stand auf der Treppe, um sie zu begrüßen   – Ewa, die Wirtschafterin, die den Krieg über dageblieben und nun verwitwet war wie alle anderen. Sie stand da und winkte mit beiden Händen. Neben ihr standen drei deutsche Offiziere.
    Platków war von den Verpflegungsoffizieren requiriert worden, die für den Nachschub an Milch, Eiern und Getreide aus den Dörfern zur

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