Das Haus der Bronskis
Versorgung ihrer Truppen verantwortlich waren. Sie waren nicht erfreut, die Fuhrwerke zu sehen.
Helena fegte an ihnen vorbei und ging hinein, wanderte von einem Zimmer zum anderen. Die Wertgegenstände waren fort – 1915 nach Rußland gerettet und jetzt in bolschewistischer Hand. Die Zimmer, viele davon mit geschlossenen Läden, sahen wie Kasernenräume aus und rochen nach ungewaschenen Männern. Sie ging in den Garten hinaus. Der Wind pfiff in den Birken, und sie fragte sich, ob es wohl irgendwo irgend etwas gab, das vom Krieg unberührt war.
An dem Abend kam ein Mann auf einem Braunen die Allee entlanggeritten. Er stieg ab, übergab die Zügel einem seiner Offiziere und verbeugte sich. Er stellte sich Helenas Mutter vor als Freiherr von Sanden, Bezirkskommandeur.
»Selbstverständlich, Gräfin. Sie müssen Ihr Haus zurückfordern. Ich sehe zu, daß meine Leute ausquartiert werden.«
Und mit einem Zusammenschlagen der Hacken war Herr von Sanden fort. Von seinen Offizieren gehorsam eskortiert, trabte er unter den Kastanien davon.
In Platków gewannen die Tage bald ihren eigenen Rhythmus. Helena, ihre Mutter und Schwester, Panna Konstancja und Tekla – die fünf, die während der vergangenen drei Jahre zusammengeblieben waren – hatten in gewisser Weise das Gefühl, heimgekehrt zu sein.
Aber sie waren sehr isoliert. Sie lebten in einem Land, das überhaupt keines war. Niemand war für irgend etwas zuständig. Die Deutschen ließen Züge und Post nur ihren Bedürfnissen gemäß verkehren, mehr nicht.
»Wie Fische«, sagte Helenas Mutter. »Wir sind wie blinde Fische, die in einem Netz schwimmen.«
Sie teilte ihnen allen ihre täglichen Aufgaben zu. Helena mußte jeden Morgen von den Dorfhütten Milch holen, dann in alten Kesseln Lauge aufkochen, um Seife herzustellen; mit Tekla fabrizierte sie Weizenstärke. Ihre Mutter hatte ein paar Streifen Kautschuk in den Ställen aufgestöbert und machte sich daran, allen die Schuhe neu zu besohlen. Sie saß da, umgeben von Kleistertöpfen und Kaffeetassen und schlangenähnlichen Gummistücken, und schon bald humpelten alle durchs Haus, unentwegt über ihre nagelneuen Gummisohlen stolpernd.
Helena hatte ein Zimmer im Erdgeschoß – einen dunklen getäfelten Raum, der auf den Park hinausging. Dort, sagt sie, verbrachte sie ihre Nachmittage mit Lernen, die Ellbogen auf einen der Bände einer polnischen Geschichte Europas gestützt oder auf Macaulays
History of England
oder Bongands
Le christianisme et les temps présents
. Sie las stetig und mit Gewinn; die Bücher, das Zimmer und diese Monate der Ungewißheit blieben für sie auf immermiteinander verknüpft als ständige Mahnung an die Wirren Europas.
Helenas Mutter hatte eine alte Wilnaer Freundin wiederaufgetan – Tante Anna. Tante Anna war einst sehr schön gewesen. Ihre smaragdgrünen Augen und ihr langer Hals hatten Helena immer fasziniert, und als Mädchen hatte sie sich gewünscht, so zu sein wie sie.
Doch nun mit beinahe fünfzig war ihr Gesicht verbittert und ihr Haar zu einer starren ondulierten Krone frisiert. Nachdem ihr Mann ein paar Jahre zuvor in Petersburg gestorben war, hatte sie einen zehn Jahre jüngeren geheiratet. Jetzt haßte sie es, mit ihren Kindern gesehen zu werden, die jedermann daran erinnerten, wie alt sie war. Sie waren alle in Wilna, ihr jetziger Ehemann war im Krieg, und Helenas Mutter und sie saßen plaudernd und rauchend beieinander, spielten Karten und tranken endlos viele Tassen türkischen Mokka.
Mitte Juni kam Helena zur Mittagessenszeit vom Stall. Ein schwacher Apfelblütenduft hing in der Diele. Ihre Mutter saß mit Tante Anna auf der Terrasse, sie hielt einen Brief in Händen.
»Dein Dr. Medeksa ist in Wilna.«
»Laß mich sehen, Mama.«
Der Brief war auf dickem, schlechtem Papier geschrieben, und die Tinte war ein wenig in die Fasern eingesickert, so daß die Buchstaben zerlaufen waren. Ganz oben standen Zeilen von Keats, auf englisch. Der Brief schloß:
. . . Ich bleibe noch eine Woche in Wilna, bis zum 27. Juni. Komm also vorher, Helena, ich warte. Laß mich deine Antwort wissen.
Medeksa.
Tante Anna wedelte abschätzig mit ihrer Zigarette. »Laß sie ihn heiraten! Du hast genug Ärger mit ihr gehabt. Laß sie in irgendeiner scheußlichen Stadtwohnung hocken, während er geschlechtskranke Juden behandelt.«
Helena nahm den Brief mit. Sie ging durch den Garten, an den Sträuchern vorbei und zur Holzbrücke dahinter; sie lehnte sich
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