Das Haus der Bronskis
jenem Sommer nach Rußland. Ich sagte ihr, ich könne hinkommen und sie abholen, und wir könnten zusammen fahren.
Am Vorabend des längsten Tages im Jahr stieg ich also in Birstonas, einem kleinen Litauer Heilbad, aus einem zerbeulten sowjetischen Bus. Ich überquerte den Platz und ging in Richtung Fluß. Die Pappelblätter flatterten im Wind; über der Stadt war gerade ein heftiger Regen niedergegangen, und auf der Straße standen schwarze Pfützen.
Jenseits der Stadt befand sich ein Komplex von Betonhotels. Ich fand das richtige, nahm den Fahrstuhl zum fünften Stock, ging einen schummerigen Korridor entlang und klopfte an die Tür von Zimmer 511.
»Phiilip! Ich habe gedacht, du schaffst es nie!«
Ich küßte Zofia auf beide Wangen und folgte ihr ins Zimmer. Sie trug einen hellblauen Rock, einen marineblauen Pullover und eine Plastikperlenkette. Sie drehte sich um und setzte sich. Ihr Gesicht mit seinem Netz feinerFältchen, dem eingravierten Vermächtnis eines langen Lebens voll Zauber und Leiden, war gebräunt und leuchtete. Ich sagte ihr, sie sehe gut aus.
»Ja, das tue ich. Aber ich sage dir, zwei Wochen hier, und es reicht! Man ver-blö-det hier. Hätte ich nicht meine Bücher und den Njemen, ich wäre bestimmt wahnsinnig geworden.«
Auf dem Tisch vor ihr lagen zwei oder drei Bücherstapel. Ich entdeckte die Gedichte von Zbigniew Herbert, ein neues Buch von Kapuściński und eine Biographie von Daphne du Maurier: polnisch und englisch, Polen und Cornwall, ihre beiden Welten. Ich fragte sie, ob sie etwas geschrieben habe.
»Ja, ein paar Verse. Aber nur auf polnisch.«
Den Abend verbrachten wir mit ihrer Kusine und einigen anderen polnischen Witwen. Wir saßen in einem ihrer Zimmer und tranken eine Flasche Dubonnet und aßen Schokolade. Die späte Sonne schien zum Fenster herein und fiel auf das graue Haar und die altmodischen Kleider der Witwen; die Flasche machte die Runde, und sie erzählten ihre Geschichten, die fünfzig Jahre alten Geschichten, die immer gleichen Geschichten, auf die früher oder später jedes Gespräch hier hinauslief – die Geschichten von Verschleppung, Exil und Tod –, bis es so schien, als gebe es nichts mehr zu sagen. Schweigen legte sich zwischen uns. Von draußen drang das Geräusch eines Lastwagens herein, der den Gang wechselte, und Zofia sagte lächelnd: »Schluß mit dem Trübsinn! Jetzt wird gesungen!«
Sie sang ihr weißrussisches Lied, und dann stimmte eine der Frauen den »Roten Gürtel« an, und nach und nach fielen die anderen ein. Ihre Stimmen erfüllten den Abend, strömten aus dem offenen Fenster und hinunter zum Fluß.Sie bildeten ein seltsames Gemisch, diese polnischen Witwen, die eine mit einem manierierten Sopran, eine andere mit nuschelnder Klagestimme, noch eine andere lebhaft und schrill. Während sie so sangen, dachte ich an ihre Geschichten und sah in ihre Gesichter – in das derjenigen, die vor einem Monat ihren Mann verloren hatte, derjenigen, deren Schwiegermutter von einem deutschen Panzer zerquetscht worden war, derjenigen, deren gesamte Familie in Auschwitz umgekommen war, und derjenigen, die auf der Deportation nach Kasachstan eine Frau im Viehwagen sich den eigenen Hals hatte aufschlitzen sehen.
Das Singen hörte auf, und ich bemerkte in Zofias Augen den vertrauten Tränenschleier. »Mein Gott«, sagte sie, »denk nur, wieviel Glück wir alle gehabt haben! Was für ein verzaubertes Leben wir hatten!«
»Glück?« platzte ich heraus. »Wie kannst du das nur sagen, Zosia!«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Phiilip. Bedenk doch. Warum sind denn wir verschont geblieben, wo all die anderen zugrunde gegangen sind?«
Am nächsten Morgen verließen wir Birstonas und die polnischen Witwen und nahmen einen Bus in ein Gebiet von Seen, Kolchosenfeldern und bewaldeten Horizonten. Zofia war neugierig auf Vilnius. Sie gebrauchte den polnischen Namen Wilno.
»Das zeigt dir ganz gut, wie dumm und gedankenlos ich als Mädchen war. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, daß Wilna irgend etwas anderes als Polen sein könnte. Nie hat uns jemand in der Schule erzählt, daß Piłsudski einfach daherkam und es von Litauen annektierte – und das nur ein Jahr vor meiner Geburt!«
Wir fuhren über eine Hügelkuppe, und vor uns breitetesich Vilnius aus – ein Archipel alter Kirchtürme in einem Meer neuer grauer Hochhäuser.
Wir suchten nach dem Krankenhaus, in dem Zofia geboren worden war, aber ohne Erfolg. Wir überquerten den Platz
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