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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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Gebäude, das allgemein die
oficyna
hieß.
    Der erste Winter war der schlimmste, den sie je erlebt hatten   – schlimmer noch als die Kriegswinter. Die kumulierten Auswirkungen von Besetzungen, Offensiven, Invasionen und Rückzügen hatten das Land ausgesaugt. Es gab nichts. Weder Kühe noch Pferde noch Schweine noch Hühner noch Getreide; es gab weder Post noch Züge.
    Zunächst hatte Helena noch ein paar amerikanische Konserven, die hauptsächlich an Haust verfüttert wurden. Danach gab es nur noch Buchweizen. Dieser wurde zu einer wäßrigen Grütze gekocht, der
kasza
, dem bewährten Puffer gegen Hunger. »
Kasza
ist unsere Hoffnung«, war eine volkstümliche Redensart, und Adam wurde nie müde, sie bei Tisch scherzhaft zu wiederholen, wenn er Rymszewiczs junger Tochter Kasia ihr Schüsselchen reichte.
    Doch Adam war nur selten in Druków. Jeden Montagmorgen marschierte er in jenem Winter durch den Schnee nach Mantuski. Dort wohnte er die Woche über bei einer Bauersfamilie in einer
chata
und machte sich daran, auf dem
dwór
Schutt zu räumen.
    Man war sich nicht einig, was mit Mantuski passiert war. Adam trug unterschiedliche Berichte der Dorfbewohner zusammen. Es schien so zu sein, daß nach der Schlacht am Njemen, gegen Ende September 1920, eine große Anzahlrussischer Einheiten auf dem südlichen Flußufer den Rückzug angetreten hatte. Polnische Kavallerie hatte ihnen nachgesetzt und sie vor sich hergetrieben. In Mantuski, wo eine Fähre lag, hatte es beim Übersetzen einen Stau gegeben, und es war zu einer Art Schlacht zwischen Polen und Russen gekommen. Als sie vorbei war, stand der
dwór
in Flammen. Niemand konnte ihm sagen, wer dafür verantwortlich war   – die Polen, die Russen oder plündernde Dorfbewohner.
    Für Helena, die in Druków praktisch allein war, schleppten die Wochen sich hin. Sie vermißte Adam. Jeden Samstagabend kam er für zwei Nächte von Mantuski zurück, schüttelte sich den Schnee von den Stiefeln und legte sein Gewehr auf den Tisch. Für sie waren diese Nächte in jenem düsteren Winter die einzige Zeit, in der sie sich wirklich lebendig fühlte.
     
    Im Februar 1921 fing Helena an, die Dorfkinder zu unterrichten. Sie brachte ihnen Lesen und Schreiben bei, und kleine Geschenke fingen an, bei ihr einzutrudeln: ein Stück Speck, etwas spelziges Brot, Getreide, das einer hatte verstecken können, eine Knolle rote Bete. Und eines Tages ein Zettel in nahezu unverständlichem Polnisch mit der Bitte, die Großmutter eines Mädchens zu besuchen.
    Die Großmutter war eine unförmig breite Frau, und sie war sehr krank. Sie lag in einer kleinen Hütte im Wald auf dem Ofen. Ihre Familie war, weil tatarisch, in den Kriegsjahren nach Osten geflohen, und jetzt war nur noch dieses eine Mädchen da.
    »Bitte, helfen Sie ihr«, flüsterte die Frau im Liegen. »Mit mir ist es bald vorbei.«
    Helena tat, was sie konnte. Sie schickte ihnen etwas zu essen, wenn es irgend etwas gab. Die Tatarin blieb am Leben.Ihr Zustand war immer gleich, wenn Helena kam, sie lag bleich und teilnahmslos, wenn auch lebend, auf ihrem warmen Lager.
    An einem nebligen Märztag kehrte sie in der Dämmerung von der Hütte der alten Frau zurück. Ein Soldat in zerlumpter Uniform trat aus dem Nebel und ging neben ihr her.
    Es war ein polnischer Soldat. Er hatte im Wald gelebt, seit seine Einheit beim letzten russischen Vormarsch zerschlagen worden war. Er hatte gehört, es sei Frieden, glaubte es aber nicht.
    »Gott hat dieses Land verlassen«, sagte er.
    »Gott ist noch immer da, wenn man genau hinsieht.«
    »Zwischen den Bäumen sehe ich nur Gespenster. Die Männer, die gefallen sind. Nur die kenne ich. Gespenster.« Er schaute auf seine Bastschuhe und schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden. Niemanden, nur Gespenster. Bleib stehen, hier bei mir.«
    Sie sagte nichts.
    »Bleib stehen«, wiederholte er und baute sich vor ihr auf. Sie war gezwungen anzuhalten. Er streckte seine geschwärzte Hand aus und griff nach ihrer Schulter.
    Der Wind seufzte in den Zweigen über ihr; es dunkelte. Helena sah ihm in die Augen. »Auch ich bin ein Gespenst. Und wer sich mit einem Gespenst einläßt, kann nie ins Land der Lebenden zurück.«
    Der Arm fiel herunter.
    Tage danach hörte Helena die Geschichte eines Deserteurs, der mit weit aufgerissenen Augen aus dem Wald gerannt war und zähneklappernd von einem Gespenst erzählte, einem seltsamen und liebebedürftigen Gespenst, das versucht hatte, ihn anzusprechen.
     
    Um diese Zeit traf

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