Das Haus der Bronskis
vor dem alten KG B-Hauptquartier und gelangten zur St. Jakobskirche. Sie wurde gerade restauriert. Innen wuchs ein Netz hölzerner Baugerüste gleich einer kunstvollen Treppe bis zu den Gewölbedecken hinauf. Eine Gruppe von Frauen fegte den Baustaub vom Steinfußboden.
Zofia ging zu ihnen hin. »Wissen Sie«, sagte sie, »daß mein Vater vor zweiundsiebzig Jahren in der Nacht vor meiner Geburt hierher, in diese Kirche, gekommen ist und so intensiv gebetet hat, daß er über Nacht eingeschlossen wurde? Stellen Sie sich das vor!«
Die Frauen lächelten Zofia an und schauten auf ihre Kleidung. Sie verstanden keine Silbe Polnisch.
»Wenn ich nur wüßte«, sagte Zofia, als wir aus der Kirche traten. »Irgendwo hier war die Mickiewicz-Straße. Wir hatten da eine Wohnung – Nummer 62.«
Ich fragte einen Eisverkäufer nach dem Namen der Straße.
»Gedimino.«
»Und davor?«
»Davor?« höhnte er. »Stalin, Lenin, Hitler, suchen Sie sich’s aus . . .«
»Und vor dem Krieg? In der polnischen Zeit?«
»Ach damals! Damals hieß sie Mickiewicz.«
»Dann also«, sagte Zofia, »steht der Block am anderen Ende. Der letzte vor dem Fluß.«
Es war ein langer Weg. Kleine blaue Plaketten verkündeten die Nummern. Wir folgten den geraden auf der linken Seite. Nummer 60 war gegenüber dem neuen Parlamentsgebäude.Aber eine Nummer 62 gab es nicht, nur einen weiten Platz, die Straße und den Fluß.
Wir gingen zur Mitte des Platzes vor. Er war leer. Zofia blickte sich um und schüttelte den Kopf.
»Es ist alles so sonderbar, Phiilip! Weißt du, wenn ich mich jetzt als Sechzehnjährige hier über die Straße spazieren sähe, ich glaube wirklich, das Mädchen wäre mir vollkommen fremd.«
Wir gingen im Halbkreis am Fluß entlang zurück in die Altstadt. Zofia wollte die Wundertätige Muttergottes sehen. Die Kapelle, in der sie hängt, steht oberhalb eines der alten Stadttore, dem »Spitzen Tor«, der Ostra Brama. Davor tummelten sich Scharen von Bettlern und eine Gruppe autistischer Kinder. Eine Frau mühte sich auf den Knien die Stufen hinauf.
Im Innern der Kapelle stand Zofia mehrere Minuten vor dem Bild. Das Kerzenlicht spielte auf ihrem Gesicht. Um sie war das Andachtsgemurmel der Alten, Kranken, Neugierigen, der wenigen neuen Anhänger des postsowjetischen Katholizismus.
Das Bild selbst war ganz außergewöhnlich. Wenn man es betrachtete – das von Silber umschlossene, talgig verblaßte Gesicht mit den halbgeschlossenen Augen und der leicht geneigten Kopfhaltung (das angeblich das Gesicht der Barbara Radziwi ł ł óna zum Vorbild hat) –, wurde es immer trauriger und trauriger und noch trauriger, bis es schien, als sei keine Traurigkeit zu umfassend, kein Leiden zu groß, als daß die Heilige sie nicht auf sich nehmen könnte. Die Andächtigen und die Pilger hielten die Perlen ihrer Rosenkränze zwischen den Fingern und wiederholten inbrünstig Beschwörungsformeln, während sie sie wie in unentrinnbarer Trance anstarrten.
Zofia stand abseits, ohne Rosenkranz in der Hand, ohne Beschwörungsformeln auf den Lippen; ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von Verlorenheit, der so typisch für sie war, daß er einer Signatur glich. Ich habe nie entscheiden können, ob er dem Weinen näher war oder dem Lachen.
Unter dem Bild hing gleich einem Lächeln eine silberne Mondsichel. Rundherum waren Täfelchen über Täfelchen mit Gold- und Silberherzen, eingravierten Namen, betenden Figuren, silbernen Armen, Beinen, Händen und Füßen – und Mitteilungen: »Dank für die Erhörung meiner Herzensgebete. St. Petersburg 1912.«
Das war das Jahr gewesen, in dem Helena erstmals allein hierhergekommen war. Sie war dreizehn und hatte eben angefangen, mit ihrer Mutter die Klingen zu kreuzen. In der Ostra Brama, schrieb sie später, hatte sie ihre jugendliche Wut in einer Atmosphäre offensichtlichen Verständnisses herauslassen können.
Draußen regnete es, ein sanftes Nieseln, das die Umrisse der Gebäude verschwimmen ließ und wie Tautropfen an Zofias grauem Haar hängenblieb. Sie setzte einen wasserdichten Hut auf, den sie unter dem Kinn zuband.
»In den schlimmsten Kriegsjahren in London habe ich ein Gedicht über diese Muttergottes geschrieben. Es hat irgendeinen Preis bekommen. Ich weiß eigentlich nicht, warum, so gut war es nicht . . .« Und sie lächelte, als wir über das Kopfsteinpflaster zum Tor hinausgingen.
An einem Abend in Vilnius trafen wir uns mit einem polnischen Geschäftsmann und dessen
Weitere Kostenlose Bücher