Das Haus der Bronskis
Aberdutzende von Hyazinthen; bis zum heutigen Tag kann ich keine Hyazinthen sehen, ohne an seinen Tod zu denken.«
Adam wurde ein paar Tage später in der Familienkapelle in der Nähe von Nowogródek beigesetzt. Es war ein grauer, windiger Morgen. Onkel Bischof stand am Grab. Der Wind fegte durch die Kiefern und riß an den Seiten seiner Bibel. Bevor der Sarg geschlossen wurde, legte Helena Adam das Taschenmesser auf die Brust, das er ihr 1915 geschenkt hatte, und einen Brief. Von dem Brief hatte sie eine Abschrift gemacht:
Leb wohl,
moj ptaszyku
. Leb wohl, mein teuerstes Herz. Ich werde für Deine Kinder sorgen, wie Du es Dir gewünscht hättest, und ich werde tapfer sein. Ich werde Dich stolz auf mich machen. Möge Gott Dich segnen, mein Liebster, und möge die Erde leicht auf Dir ruhen. Ich danke Dir für das, was Du mir gewesen bist. Gott wird mir helfen. Ich werde Dich immer lieben. Ruhe in Frieden, mein Teurer, ruhe in Frieden . . .«
***
1992. Nowogródek. Zofia wollte das Grab ihres Vaters suchen. Sie war sehr müde. Ich schlug ihr vor, damit zu warten, aber sie sagte, nein, sie wolle es hinter sich bringen.
Wir fuhren durch tropfnasse Wälder. Die ungeschotterte Straße war verlassen. Dunkelheit hing über allem.
»Ich erinnere mich an die Kapelle«, sagte sie. »Eine Familienkapelle auf einem niedrigen Hügel.«
Wir ließen die Bäume hinter uns, die Straße verlief jetzt zwischen Roggenfeldern. Es regnete immer noch. Ungefähr achthundert Meter nach den Feldern schloß das Dunkelgrün des Waldes sich wieder. Linker Hand war eine kleine Kuppe. »Ja, dort.«
Da stand eine Lärche, gleich der, die die Ruine von Mantuski gekennzeichnet hatte – wieder eine Lärche, die die Haselsträucher überragte. Neben ihr stand die Kapelle.
Sie war noch vorhanden, wenn auch in einem traurigen Zustand. Wir ließen das Auto stehen und gingen zu ihr hinauf. Eine der vier Säulen war zusammengebrochen, das Dach war eingestürzt.
Adams Grab befand sich außerhalb. Ein Eisengitter umgrenzte die Stelle. Innerhalb des Gitters gähnte ein Loch. Das Grab war ausgeraubt worden.
Eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern hatte sich versammelt,um uns zu beobachten. Der Regen tropfte von ihren Hüten. Es war im Krieg, sagten sie, im Krieg – Banditen . . . Partisanen . . . der Schatz, die Ringe und Goldzähne . . .
Minutenlang stand Zofia vor dem Gitter; sie brachte kein Wort heraus. Sie starrte in die Dunkelheit des väterlichen Grabs. »Es geht alles drunter und drüber, Phiilip, diese ganze schreckliche Welt steht kopf. Wir suchen das Grab, und es ist wieder ans Tageslicht gelangt, und wir suchen unser Haus, und es hat sich selber begraben. Alles ist auf den Kopf gestellt . . .«
24.
D en ganzen Sommer
, den Sommer 1934, blieb Helena in Mantuski. Ein Strom von Besuchern zog durch das Haus. Alle wußten sie guten Rat und erteilten ihn reichlich: Onkel Bischof mit geflüsterten Andachtsübungen, Helenas Mutter (»Du hast eine Treuepflicht gegenüber deinen Kindern«), Panna Konstancja (»dieser Knochenmann«), Onkel Nicholas (»Wir sind die nächsten, die gefällt werden«).
Helena machte weiter. Sie machte mechanisch weiter. Sie stand jeden Morgen auf, zog sich an, verbrachte Zeit mit den Kindern, sah nach dem Rechten in den Pferdeställen, bei den Kühen, in der Käserei. Sie bewegte sich auf Mantuskis staubiger Sommererde wie ein Geist. Vom Geruch der Ställe wechselte sie zum Eimergeklirr beim Melken und von da in die Mittagskühle des Hauses. Doch nach ihrer eigenen Erzählung fühlte, hörte und roch sie nichts.
Der Juli war unerträglich heiß. Das Vieh wälzte sich in den Untiefen, stand knietief im Schlamm. In der gelben Nachmittagsödnis, wenn es zu hell war zum Arbeiten, unternahm Helena Spaziergänge und schwamm im Fluß – ein hoffnungloses Sichklammern an die Zipfel ihres alten Lebens.
An einem Augusttag ging sie an den brachliegenden Feldern entlang. Sie blieb stehen und schaute zurück, über die wirren Knäuel verdorrter Quecke, über den Roggenflaum; sie fühlte sich eins werden mit dem Hitzeglast, aufsteigen wie Dunstschwaden, sich hinaufschrauben wie eine Windhose. Sie schloß die Augen, reckte den Kopf,und alles war wieder orange – wie die Wilija, wie das Zimmer, in dem Adam gestorben war, in dem sie sich verlobt hatten, orange wie der Tag 1914, als sie in Klepawicze unter den Birkenzweigen gelegen hatte, der Tag, als der Krieg begonnen hatte und die Mauern ihrer ersten
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