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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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Welt gefallen waren.
     
    Mit der ersten Herbstkühle kehrte Helena zur Erde zurück. Ein kleines Feuer hatte eine der Scheunen beschädigt. Ein neuer Stier wurde geliefert. Pflugscharen rissen die Stoppeln und die oberste Bodenschicht auf, und Winterroggen wurde gesät. Aus Warschau kam eine neue Erzieherin.
    Helena wußte, daß ihre Mutter recht hatte; ihre erste Pflicht galt ihren Kindern. Sie schrieb eine Liste mit guten Vorsätzen:
     
    Bete gegen negative Gedanken (schlimmer als böse Gedanken).
Sei nach außen fröhlich und heiter.
Bete für Adam, bete für die Kinder.
Sprich mit jedem Haushaltsmitglied, mach Besuche im Dorf.
Beklage dich nicht.
Beschäftige dich! Geh so oft wie möglich spazieren, reiten, schwimmen.
     
    An einem Tag Anfang Oktober ritt sie am Njemen entlang und dann in den Wald, wobei sie ein Büschel Birkenzweige beiseite schob. Einige wenige Vögel sangen noch, und einen Augenblick lang fühlte sie sich davon emporgetragen. Sie spürte das vertraute Einswerden der Sinne, eine Empfindung, die der Wald ihr immer bereitete, und wußte, daß sie zumindest hier, inmitten der Bäume, sicheren Trostfände. Dann hörte sie das Tocktock einer Axt. Es war Sonntag: da hätte nicht gefällt werden dürfen.
    Sie ritt dem Geräusch nach, und stieß auf einer Lichtung auf drei Männer neben einer frisch gefällten Birke.
    »Was tun Sie da?« fragte sie. »Das Holz hier gehört dem
dwór

    Einer der Männer sah kurz zu ihr auf, bevor er seine Arbeit wiederaufnahm. »Der
dwór
hat jetzt keinen Herrn mehr.«
    »Ich bin verantwortlich für den
dwór

    Der Mann schwang seine Axt, und sie blieb im Stamm einer anderen Birke stecken. Er hebelte sie heraus. »Mantuski ist kein Platz für eine alleinstehende Frau.«
    »Es hat sich nichts verändert!«
    Der Mann ließ die Axt sinken. Er sah wieder zu Helena auf, sagte aber nichts.
    »Wenn ihr Brennholz braucht«, sagte sie, »dann kommt zum
dwór
. Es ist reichlich da. Aber dieses feige Stehlen werde ich nicht zulassen!«
    Der Mann lächelte flüchtig. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Mitleid. Er rief seine Männer, und sie gingen miteinander weg. Es wurde nicht mehr gestohlen.
     
    Wie ein stummer Fremder schob sich die Vereinsamung unmerklich immer näher an Helena heran. Der Winter war erträglich, doch im Sommer, dem zweiten Sommer nach Adams Tod, spürte sie das erste Flüstern des Wahnsinns.
    »Arbeit«, sagte sie zu sich. »Ich muß in Arbeit ertrinken.« Und sie konnte nicht umhin zu lächeln: Adam hatte derartige Heilmittel immer »die Zuflucht der Kalvinisten« genannt.
    Sie verbrachte die Zeit damit, einen genauen Aufforstungsplan für die Wälder auszuarbeiten. In Wilna entdecktesie eine bestimmte Sorte russischer Pflaumen und setzte neue Obstbäume. Sie kaufte zwei neue Bienenstöcke, schwamm am Morgen, ging abends spazieren, besuchte die Messe; und es gab Abende, an denen sie für eine ganze Stunde vergessen konnte.
    Doch Anfang September traf sie in Lida einen Arzt, der sich die dunklen Flecken unter ihren Augen ansah und sagte: »Madame Brońska, Sie leiden an nervöser Erschöpfung.«
    Er empfahl eine Heilquelle. Karlsbad, meinte er, ein sehr gepflegter Kurort. Sie fuhr mit dem Zug dorthin und nahm ein Zimmer in einem Hotel mit hohen Decken und scheppernden Leitungen. Seit einem Besuch mit ihrer Mutter vor etlichen Jahren hatte Karlsbad in ihrer Vorstellung in zwei zufälligen Bildern überlebt: die zündholzschachtelgroße Stadt, wie man sie von der schwankenden Seilbahnkabine aus sah, und eine Ziege, die sie in der Nähe des Hotels beobachtet hatte, wie sie sich durch die Seiten einer Bibel fraß.
    Der Speisesaal ihres Hotels war voller Gäste, die allein an Tischen mit rosa Tischdecken aßen. Neben der Tür standen Schusterpalmen, Decken und Wänden trugen Kaskaden von Rokokostuck. Abends thronte ein Schwan aus Eis auf dem angerichteten Büfett.
    Tagsüber saß sie auf der Terrasse. Sie trank schlückchenweise Heilwasser und sah Europas müßige Horden an ihrem Tisch vorbeiflanieren: geschniegelte Deutsche, Tschechen, Österreicher, Schweden und, ein wenig abseits vom Rest, Juden und Engländer, denen man die innere Distanz ansah.
    Helena fand es angenehm, an einem Ort allein zu sein, wo alle anderen auch allein waren. Aus irgendeinem Grund kam sie besser damit zu Rande als die Menschenum sie her. Morgens bekam sie Dampfbäder und, nach einer Woche, den Heiratsantrag eines schnurrbärtigen Pariser Anwalts. Sie sagte nein, sie

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