Das Haus der Bronskis
Herbst 1936 kam Helenas Mutter zu einem längeren Aufenthalt. Arme Mama! Wenn Helena jetzt an ihre Mutter dachte, dann immer als »arme Mama«, diese zerbrechliche Frau, die von nichts anderem redete als von Polens großen Familien – den Radziwi ł ł s, Potockis, Zamoyskis – und nur die frühen Mystiker las – Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Thomas von Kempen. In Mantuski verbrachte sie ihre Tage in einem Ledersessel am Fenster.Sie schaute blinzelnd auf den Fluß, während sie Helena drängte, wieder zu heiraten.
Helenas Mutter lebte in der ständigen Furcht, die Russen würden kommen. In Wilna, wo sie eine große Wohnung unterhielt, suchte sie die beruhigende Gesellschaft von Priestern und Obersten. Freunde und Familie hatten sich als Enttäuschung erwiesen. Sie hatte sich schließlich auch mit Tante Anna zerstritten, die nach Südamerika gegangen war und einen jüdischen Komponisten geheiratet hatte.
Helena hatte alles mögliche versucht, um ihre Mutter aufzuheitern. Sie hatte Bridgeeinladungen und Mittagessen mit Gästen arrangiert, hatte die Kinder eine Reihe biblischer Szenen aufführen lassen. Es glitt alles an ihr ab.
Erst als sie anfing, sie in den Gutsbetrieb mit einzubeziehen, zeigte sie so etwas wie Interesse. Helena ging die Bücher durch, die Milcherträge, die Käseherstellung, den Holzeinschlag, besprach die Fruchtfolge mit ihr, Viehfutter, Löhne, neue Maschinen.
An einem Nachmittag bei tiefhängendem stahlgrauen Himmel wickelte Helena ihre Mutter in Pelze und nahm sie mit hinaus, um sich die Herde anzusehen. Die Kühe waren für den Winter eingestallt. Ein Ende des Stalls war gerade ausgebaut worden, weil geplant war, etwa zwanzig Färsen von den Frühjahrskälbern zusätzlich unterzubringen. Die neuen Boxen waren noch leer mit Ausnahme der letzten, einer größeren, in der die dösende Gestalt Goliaths stand.
Goliath hatte Smok als Mantuskis Zuchtstier ersetzt. Er war als verspieltes rotbuntes Kalb gekommen und dank der bewährten Ernährung mit Rüben und Vitaminen zu gewaltiger Größe angewachsen. Er war tief kupferrot gezeichnet, um die Augen hatte er weißen Flaum und weiteroben einen Puschel, der ihm auf der Stirn tanzte. Er stand in seiner Box wie ein großes Schiff im Trockendock.
Die alte Dame lehnte sich an die Querstange, tätschelte seine Lende und lächelte seit Wochen zum erstenmal. Helena erglühte vor Tochterstolz.
Von irgendwo weit her im Stall kam das gedehnte Stöhnen einer Kuh, und Goliath schnaubte.
»Achtung, Mama!« rief Helena. Goliath warf den Kopf hoch, drehte sich um und drückte dabei mit dem Hinterteil gegen die Stange. Metall rasselte, und Holz ächzte. Helenas Mutter machte einen Schritt zurück. Ihr Fuß verfing sich in der Abflußrinne, verdrehte sich, und sie fiel auf den Steinboden. Ihr Kopf landete ungefährdet auf Stroh. Aber ihr Bein steckte sonderbar abgewinkelt fest.
»Jesusmaria!« zischte sie. »Ich kann mich nicht bewegen.«
Mit Hilfe Barteks und eines Stallknechts transportierten sie sie in einem Schubkarren in die Klinika. »Hab’s ja gewußt, Pani Brońska«, sagte der Stallknecht, »daß das mit den neuen Ställen nix is, die sin ja gar nich geweiht worden.«
Helenas Mutter hatte sich das Bein gebrochen. Sie schienten es und brachten sie auf einer Strohunterlage zum Bahnhof. In Wilna ließ sie sich den Bruch einrichten, und nach drei Monaten konnte sie wieder gehen. Aber nach Mantuski kam sie nie wieder.
Im Dorf hatte sich die Nachricht schnell verbreitet. Ein solcher Unfall geschah zweifellos nicht zufällig, und die übereinstimmende Meinung war, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.
Der Stallknecht hatte nicht ganz unrecht: Sie hatten nicht die vorschriftsmäßige Prozedur durchgeführt, bevor das Tier eingestallt wurde. Kein Gebet war auf derSchwelle gesprochen, kein Besen oder Beil in die Fundamente eingemauert worden. Entweder das Gebäude war schuld oder der Stier.
Widerstrebend holte Helena einen Priester, um den ausgebauten Kuhstall und die verschiedenen Gegenstände und Amulette segnen zu lassen, die nun darunter verborgen waren.
Doch im folgenden Frühjahr breitete sich eine merkwürdige Krankheit in der Herde aus, und vier Kühe mitsamt ihren ungeborenen Kälbern starben in schneller Folge. Die
parobcy
begannen dunkel etwas von einem »bösen Stier« zu murmeln. Da sie ihn nicht verkaufen konnte, war Helena gezwungen, ihn schlachten zu lassen.
25.
E nde Mai
1937 wurde bei dem Geistlichen von Mantuski
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