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Das Haus der Feuerfrau (German Edition)

Das Haus der Feuerfrau (German Edition)

Titel: Das Haus der Feuerfrau (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Büchner
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nach, wie ich über alles andere auch nachdachte, und auf einmal hatte ich das merkwürdige Gefühl, dass ich in dieser Sache überhaupt nicht gefragt wurde. Sie war über meinen Kopf hinweg entschieden worden ... jedenfalls scheint es mir so.“
    „Erklärst du mir das genauer?“
    „Wenn ich es kann. Das Meiste davon verstehe ich selbst nicht. Wie ich dir schon sagte, in diesem Jahr hatte ich das Gefühl, als würde ich durch einen Fleischwolf gedreht. Kein Stein in mir blieb auf dem anderen. Und doch wusste ich die ganze Zeit, dass ich begleitet und gehalten wurde. Jemand war an meiner Seite ... Ich fühlte, dass jemand außerhalb meiner selbst eine grundlegende Entscheidung über mein Leben getroffen hatte, ohne mich um meine Meinung zu fragen. Jemand, den ich nicht kannte und von dem ich keine konkrete Vorstellung hatte, war der Meinung, dass ich leben sollte, und so lebte ich.“ Er lächelte mich an. „Es war also, wenn man so will, eher so, dass Jesus sich für
mich
entschieden hatte, als umgekehrt.“
    „Und die offene Rechnung?“
    „Ich weiß nicht. Das war so merkwürdig ... auf einmal war das überhaupt kein Thema mehr. Ich spürte mich sehr stark gedrängt, das zu tun, was ich dann mit Hilfe anderer Leute auch getan habe, nämlich vor meinen eigenen Umtrieben zu warnen und denen zu helfen, die vielleicht in die Falle getappt wären. Aber glaube nicht, dass ich es immer mit edler Begeisterung getan hätte. Diese Einfaltspinsel, die mir da mailten, hingen mir manchmal beim Hals heraus, und ein böses Ich in mir dachte: ‚Gib einem Versager niemals eine faire Chance. Wer strauchelt, den soll man noch stoßen.‘ Und ich hatte auch nicht jeden Tag Lust, gewissermaßen am Pranger zu stehen und zu wissen, dass alle Welt nur einen Mausklick von meinen Geständnissen entfernt war. Aber ich konnte nicht kneifen. Oft war mir, als hielte mich jemand im Genick gepackt, während ich am Computer saß, ein solcher innerer Zwang hielt mich gebannt. Aber gleichzeitig spürte ich, dass es nicht wichtig war, wie viel von meiner Schuld ich abtragen konnte. Das war alles bereits erledigt.“ Er blickte mich hilflos an. „Klingt wahrscheinlich alles ziemlich verworren.“
    „Für mich nicht. Ich habe etwas sehr Ähnliches erlebt.“
    Er wrang den Lumpen aus, tunkte das schaumige Wasser, das am Treppengeländer hinuntergelaufen war, sorgfältig auf und stellte den Eimer zwei Stufen tiefer ab. Ich folgte ihm. Das Gespräch, das wir führten, verlangte nach Vertraulichkeit und körperlicher Nähe.
    „Siehst du“, fing Robert von Neuem an, während er mit nassen Händen an dem Geländer wischte, „mir wurde von Kind auf eingeimpft, dass die einzig wirklich unverzeihliche Sünde darin besteht, ein Versager zu sein. Mein Vater drohte mir schon in der Volksschule, er würde mich aus dem Haus jagen, wenn ich schlechte Noten heimbrachte, er würde mich in ein Kinderheim stecken, und er meinte es verdammt ernst. Ich wusste, er wollte mich wirklich lieber tot sehen als erfolglos. Und dann ...“ Er ließ den Lappen in den Eimer fallen und setzte sich eine Stufe unter mir hin. Die nassen, vom heißen Wasser rot aufgedunsenen Hände lagen reglos in seinem Schoß. „Ich habe dir noch nicht gesagt, dass mein Vater noch am Leben ist.“
    Unwillkürlich sog ich die Luft ein. „Oh – Scheiße.“
    „Ich musste an ihn denken“, sagte Robert Junkarts, „an dem Tag, an dem ich draußen im Busbahnhof ein Stück Pizza aß, die irgendjemand auf einer Bank hatte liegenlassen. Es ging mir durch und durch, als mir bewusst wurde, mit welcher grenzenlosen Verachtung er mich in diesem Augenblick angesehen hätte. Ich war alles das geworden, was er am meisten hasste und verabscheute. Ich war bitterarm, dreckig und hungrig, ich saß da in diesem stinkenden Automatencafé und stopfte mir gierig eine Schnitte Pizza in den Mund, an der schon jemand anderer herumgekaut hatte. Für meinen Vater, das war mir klar, war ich nicht nur gestorben – ich war zur Hölle gefahren.“
    Ich rückte näher an ihn heran und legte die Hand auf seine Schulter, streichelte ihn sanft.
    „Einen Augenblick lang“, fuhr er fort, „war ich so tief unten wie nie zuvor. So tief, dass ich ernsthaft dachte, das einzig Menschenwürdige, was ich noch tun könnte, wäre, von der nächsten Brücke zu springen. Einen Augenblick war das so ... und im nächsten wusste ich, dass es vollkommen gleichgültig war! Ich war nicht wertlos. Ich war nicht verloren oder verdammt.

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