Das Haus der glücklichen Alten
anschneiden und sich von der Überraschung erholen konnte. Hören Sie mal, Freund Esteves, sagte Senhor Pereira zu ihm, Sie glauben doch nicht, dass wir kein Fest für Sie ausrichten? Sie kennen offenbar die Freunde nicht, die Sie hier haben. Dann stimmte der europäische Silva das Geburtstagslied an, und begeistert vom gutmütigen Lächeln des wunderbaren Esteves sangen alle mit. Doktor Bernardo kam, gesellte sich zu uns, klatschte in die Hände und benahm sich, als wüsste er nicht, dass man in Altenheimen keinen Lärm machen durfte. Darum sangen wir nun alle lauter, klatschten kräftiger in die Hände und feierten so fröhlich wie möglich die hundert Jahre von Esteves’ tiefer Metaphysik. Hundert Jahre, ein Jahrhundert, Donnerwetter, ein Mann, der ein ganzes Jahrhundert hinter sich hat. Was für ein Biest von Körper, nicht zu fassen. Es gab dort keinen Feind. Darüber mussten wir uns Sorgen machen, er aber, er gerade, nicht.
12 Das Loblied auf das schöne
Leben als armer Schlucker
Dienstag, fünfter September neunzehnhundertsiebenundsechzig. Wenige Minuten vor Ladenschluss, als ich bereits den Boden gefegt und das Licht ausgeschaltet hatte, stürzte ein verängstigter Mann herein und starrte mich an. Ich hätte irgendwie reagieren können, hätte denken können, dass es ein Überfall sei, dass er mich womöglich umbringen wollte, dass er ein Böser war. Wenn die einen die Guten sind, müssen andere die Bösen sein, so linear war das Denken, das man den Portugiesen verkaufte. Doch der Mann schien genauso wenig zu wissen, was er tun oder sagen sollte, wie ich. Er starrte mich keuchend an, mit Schrecken in den Augen wie ein Flüchtender. Ich hätte irgendwie reagieren können. Ich hätte ihn hinauswerfen können, hätte voller Angst um Hilfe rufen können oder hätte ihn fragen können, was er bei mir suchte. Und er hätte es vielleicht zwischen den mühsamen, krampfhaften Atemzügen erklären können. Hätte mir vielleicht erklärt, warum er an diesem Dienstagabend kurz vor Feierabend in meinen Laden gestürzt war.
Ich sah den Mann an, der stumm vor Angst vor mir stand, zeigte ihm die Hinterkammer des Frisörladens, wo Besen und alte Lappen, Eimer und anderer Kram verstaut waren. Sofort schlüpfte der Mann hinein und hockte sich wortlos hin. Er brachte auch dort kein Wort heraus und versuchte, seinen schweren Atem zu beruhigen. Sekunden später, nur wenige kurze Sekunden später, erreichten die schrecklichen Bestien diesen Teil der Straße. Sie sahen sich überall um und hielten die Nase in die Luft. Ich setzte mir meinen Hut auf und trat auf die Straße. Nur eine Stufe. Mit einem Fuß war ich auf der Straße, der andere war noch in der Luft, wie in plötzlicher Zeitlupe, und der angsteinflößende Mann mit blauen Augen fragte mich, Sie machen um diese Zeit Feierabend? Ich sagte, guten Abend, Senhor. Sein Benehmen wurde dadurch nicht besser. Er fragte noch einmal, machen Sie immer um diese Zeit Feierabend? Ich antwortete, ja, es ist sechs. Ich blieb stehen. Ich hatte den Hut abgenommen und hielt ihn an die Brust. An der Tür nebenan, um sechs Uhr drei, trat Senhor Feliciano auf die Straße, mit einer Bewegung, die der meinen haargenau glich. Wenn ich den Frisörladen schloss, schloss er die Schusterei. Ich sagte, dann bis morgen, Feliciano! Er sagte, gute Nacht, Freund António, bis morgen! Der PIDE-Mann schnaubte und fragte ihn, Sie gehen schon? Ich drehte den Schlüssel um. Ich drehte den Schlüssel um, damit ich weiter davon entfernt war, meinen Laden noch einmal zu betreten. Ich drehte den Schlüssel mit einem kaum wahrnehmbaren Zittern der Finger um, mit großer Angst, und tat einen Schritt. Der PIDE-Mann musterte mich wieder. Ich verabschiedete mich, gute Nacht, Senhor. Er antwortete, gute Nacht, als hätte ich ihn fast schon überzeugt, diesen Widerling. Dann ging ein Ruck durch ihn, und er rief, warten Sie! Ich blieb stehen, drehte mich um und sah ihn fragend an, und? Sie haben hier nicht zufällig ein gefährliches Subjekt davonlaufen sehen? Ein gefährliches Subjekt, wiederholte er, da ich schwieg. Nein, Senhor, reagierte ich endlich, ich hab niemanden gesehen. Seit fünf ist es ruhig auf der Straße. Ich habe niemanden gesehen, nein, Senhor. Eine Sekunde, bevor es zu spät gewesen wäre, verabschiedete ich mich wieder mit einer schwach angedeuteten Verbeugung von ihm und wandte mich ab. Eine Sekunde, bevor mein Gesicht rot anlief. Ich machte ein paar Schritte, er sagte nichts mehr, und ich konnte
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