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Das Haus der glücklichen Alten

Das Haus der glücklichen Alten

Titel: Das Haus der glücklichen Alten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valter Hugo Mae
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geraucht. Ich glaubte das nicht. In seinen Augen stand Wasser, Wasser, das sie immerfort tränen ließ, und er richtete die Augen auf den, der gerade eintrat. Er bewegte nicht den Kopf und krümmte nicht einmal einen Finger, der ganze Körper war abgeschaltet, seine Augen aber folgten uns nach und fixierten sogar unseren eigenen Blick. Ich hatte den Eindruck, dass er in seinem Innern eingesperrt war, ohne Bewegung und Stimme, und dass die Zeit so auf die schlimmste Art verrann, ganz langsam. Es war allzu langsam, unmöglich, dass er nicht litt und nicht durch Schicksalswut und Rachedurst verbitterte. Senhor Pereira fragte, wie isst er eigentlich? Américo antwortete, durch die Schläuche, Senhor Pereira, durch die Schläuche. Und Esteves war da, er machte den Weg frei, damit wir hereinkommen konnten, und käute innerlich den Kummer darüber wieder, dass man ihn nicht mit jemand anders zusammengelegt hatte und dass er den Kindern nicht mehr zusehen konnte. Das hier ist für Leute, die den letzten Sprung springen sollen, und dann schlafen wir dort, wo man es haben will. Américo widersprach, sagen Sie doch nicht so etwas, Senhor Esteves, die Fenster lassen sich gar nicht öffnen, und das Zimmer hier ist sogar besser als die anderen, es hat mehr Platz. Sie haben bloß das Pech, dass Senhor Medeiros keinen Mucks sagt, die anderen Gäste schwatzen miteinander, und die Zeit vergeht schneller, so dass ich ihnen manchmal sogar sagen muss, sie sollen still sein. Esteves setzte sich ans Kopfende seines Betts und protestierte weiter, aber ich wollte nicht, dass die Zeit vergeht, im Gegenteil, ich wollte, dass sie nicht vergeht. Was macht es einem Mann von hundert Jahren aus, dass die Zeit vergeht? Mir kommt es darauf an, dass sie nicht hartnäckig weiter vergeht, sondern ruhig bleibt, die verfluchte Zeit. Und dass sie mich meine Runden drehen und mich noch die Dinge sehen lässt, die zum Leben gehören, hier sieht man ja nur noch, was zum Tod gehört. Wir überwanden uns, uns ebenfalls hinzusetzen, und Esteves tat uns leid, er hatte ja nur zu recht. Es war absurd gewesen, ihn hierherzuverlegen. Womöglich hatten sie es satt, darauf zu warten, dass er sich auf diese immer noch heitere und überhaupt nicht dringende Art aus dem Leben verabschiedete. Ein Kerl, der auf diese Weise alt wird, ist eine harte Geduldsprobe. Es muss jemanden geben, der ihn erträgt, weil er sich nie mehr genau festlegen lässt. Der Tod legt alles fest, natürlich. Er machte ein böses Gesicht, und Américo fiel die Aufgabe zu, das Haus zu verteidigen. Er sagte, das sei eine Frage der Gewohnheit. Bald werde er sich dort besser fühlen als irgendwo anders. Esteves sagte, ja, natürlich, wenn die Leute erst mal tot sind, gewöhnen sie sich schnell daran. Da geht es Knall auf Fall, da gibt es keine Wahl, und man wird selbst ausgewählt. Esteves sagte, dass schon viel Zeit vergangen sei und dies bedeute eine Missachtung seines hundertsten Geburtstags. Ein so schönes Datum, ein so großer Sieg seines Geistes über das Leben, und die glücklichen Alten muteten ihm die Beleidigung zu, ihn in der Friedhofsgalerie einzuquartieren, damit er sich überzeugen ließ, schneller das Feld zu räumen. Wir mussten an Esteves’ Geburtstag zurückdenken. An den unglaublichen Geburtstag des unmetaphysischen João da Silva Esteves, und wir kamen aus dem Staunen über den glanzvollen Jahrestag gar nicht mehr heraus. Ein Kuchen musste gebacken werden, ein Lied gesungen, und sogar umarmt musste er werden, dieser Freund Fernando Pessoas, ein lebender Vers des kostbarsten portugiesischen Gedichts. Wir werden etwas unternehmen für dich, João, wir werden etwas unternehmen für dich.
    Esteves stand nicht auf. Er blieb am Kopfende seines Betts sitzen und wartete darauf, dass auch wir uns alle beruhigten. Américo blieb bei mir, beide warteten wir darauf, dass er damit herausrückte, was er uns sagen wollte, und er erklärte, ich habe Angst, mit Senhor Medeiros allein hier im Zimmer zu bleiben. Ich weiß, dass er einem leidtun kann, und ich würde ihm nur zu gern helfen, aber mich erschrecken seine angstvollen Augen, habt ihr schon gesehen, wie die voller Angst sind? Américo sagte, Senhor Esteves, sie sind müde, die Augen. Esteves machte eine Handbewegung, er wollte nicht unterbrochen werden. Was mich aufregt, das ist nachts, spät nachts, wenn eine Stille herrscht, als wäre da nichts, und die Tür ist geschlossen, damit aus dem Korridor kein Licht hereinkommt und wir nicht

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