Das Haus der glücklichen Alten
merken, ob die Schwester draußen rumläuft, weil jemand versorgt werden muss. In so einem Augenblick ist es am schlimmsten, wenn er ein bisschen stöhnt. Er stöhnt ganz leise, als wäre sein Körper ein tiefer Brunnen und er befände sich ganz unten und versuchte, nach oben zu kommen. Plötzlich seufzt er. Ein ganz schwacher, todtrauriger Seufzer, wahrscheinlich atmet man so, wenn man aus dieser Tiefe heraufgekommen ist. Als würde er sich drinnen in seinem Körper festklammern, um nicht abzustürzen. Um in seinem eigenen Körper hochzuklettern. Ein paarmal bin ich aufgestanden, habe die kleine Lampe hier angemacht, bin zu ihm gegangen und habe ihn angesehen. Ich schwöre, der Mann hat sich fast bewegt. Er hat mich so eindringlich angestarrt, dass ich wusste, er strengt sich an, um mir etwas mitzuteilen. Ich habe ihm noch ein paarmal gesagt, dass alles in Ordnung ist. Er wollte sich unbedingt bewegen. Immer, wenn ich aufstand und um sein Bett herumging, um zu meinem eigenen zurückzukehren, sah ich, dass seine Augen mich noch bohrender verfolgten, so als bäten sie mich, nicht seinen Gesichtskreis zu verlassen. Esteves rückte ein Stück zurück und fühlte sich ein wenig erleichtert. Er hoffte, dass ihm irgendetwas half, dass ich ihm half. Das ist schrecklich, ich sage euch, dieser Mann lebt in einem ständigen Horror, und ich habe Angst, weil ich nicht verstehe, was er will und was ich für ihn und für mich tun kann, ich werde verrückt, wenn ich hierbleibe.
Als ich Senhor Medeiros zum ersten Mal sah, kam es mir vor wie eine Ironie des Schicksals, das Zimmer mit ihm zu teilen. Er war der völlig unmetaphysische Medeiros. Verstehen Sie? Scheinbar geschieht nichts mit ihm. Er ist jenseits von Gut und Böse, und nur noch die Zeit geht ihn was an. Aber dann habe ich gemerkt, dass das nicht stimmte. Dass in so einer Topfpflanze noch genug Metaphysik für viele nächtliche Agonien steckt. Es regt mich auf, hier mit ihm eingesperrt zu sein und zuzusehen, wie er zugrunde geht, und ich weiß nicht, was zum Teufel ich tun oder denken soll. Ich bin älter als er. Ich bin älter als er und kann immer noch Arsch und Hose unterscheiden. Was meint ihr? Wenn das keine Gewalt im Alter ist! Das ist Gewalt im Alter. Wisst ihr, warum? Weil der Körper unser Feind ist. Weil es der Körper ist, der uns angreift. Wir haben es am Ende mit dem schrecklichsten Tier zu tun, dem Tier in uns, mit der Bestie, die wir selber sind. Die entscheidet, dass der Moment gekommen ist, in dem unsere Sinne allmählich abgeschaltet werden, und die entscheidet, wie und wann wir welchen Schmerz oder welchen Wahnsinn erleiden müssen. Ich bin nämlich hundert Jahre alt, ich könnte fast euer Vater sein, und ich sage euch eins, alt sein heißt, gegen den Körper zu leben. Die widerliche Bestie, die wir sind und die uns nicht mehr erträgt. Die Gewalt im Alter.
Unser völlig metaphysischer Esteves war im Überalter. Er setzte sich an den Tisch mit ein paar Alten rund um ihn und sah, dass ein weißer, schöner Kuchen auf ihn wartete. Er lächelte. Er freute sich. Es war nicht viel nötig, und man musste auch kein großes Brimborium machen. Eine kleine Aufmerksamkeit genügte, um ihn von dem hässlichen Gedanken abzubringen, man wolle ihn loswerden. Wichtig war das Gefühl, dass man ihn hier immer noch sehr gern hatte, dass ihn viele von uns liebten, über die albernen Gespräche hinaus. Wir mochten ihn. Ich lehnte mich bei Anísio an und wollte ein Stück Kuchen essen, und wir wollten nicht reden. Offenkundig staunten wir immer noch sprachlos über das Wunder, eine solche Persönlichkeit unter uns zu haben. Immer noch staunten wir, als wäre es ein unglaubliches Wunder, dass João Esteves einmal in Lissabon gelebt und den Tabakladen Alves’ mit einer solchen Selbstverständlichkeit besucht hatte, dass er mit Fug und Recht in ein Gedicht von Fernando Pessoa gehörte. Anísio sagte schließlich, was für ein verdammter Glückspilz. Wir lachten nicht mal. Wir waren sprachlos und ließen uns einfach von dieser unheimlich phantastischen Geschichte mitreißen.
Der andere Silva stellte sich auf die Zehenspitzen und wollte, dass wir ein Lied anstimmten. Américo bat, es solle ganz leise sein, in einem Altenheim durfte man schließlich keinen Lärm machen, aber der andere Silva sagte, auf geht’s, singen und lachen wir. Alle wurden unruhig, und Esteves wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er wartete darauf, dass alle wieder gingen und er den Kuchen
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