Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Verankerung ist es«, fuhr er fort und zog Linien hierhin und dorthin, zeichnete Bögen und Pfeile, schraffierte blitzschnell Flächen mit Tinte, und ließ ein Bild entstehen, das mir sinnlos schien, aber offensichtlich das wiedergab, was sein Geist vor sich sah. »Zweck dieser Verankerung ist es, dem durch Gewicht und Brückenlast entstehenden Zug der Kabel Widerstand zu leisten.«
»Die Kabel halten die Brücke?«
Er strahlte mich an. »Genau. Es gibt allerdings einen starken Widerstand gegen den Bau einer Brücke über das Golden Gate. Die Leute sagen, sie würde die Landschaft entstellen. Aber das stimmt nicht. Sie wird ein wundervolles Denkmal dafür sein, wie Mensch und Natur zusammenarbeiten können. In Harmonie!« fügte er mit dem komischen Lachen hinzu, das ich so liebte.
Er wollte das Notizbuch wieder einstecken, aber ich legte schüchtern die Hand auf seinen Arm und griff nach der bekritzelten Seite. Immer noch lachend riß er sie heraus und gab sie mir. Während ich sie sorgsam zusammenfaltete und in der Tasche meines Kleides verstaute, sah er auf die Bucht hinaus und meinte: »Alle sagen, es sei unmöglich. Wir müßten Wind, Nebel und Gezeiten jeden einzelnen Schritt abtrotzen. Das stimmt, aber es ist trotzdem möglich. Und ich bin der Mann, dem es gelingen wird.«
»Ja, das bist du. Ich weiß, daß du es schaffen kannst.«
Er drehte sich um und sah mich fest an, die Hände auf meine Arme gelegt. »Du glaubst an mich, nicht wahr? Ich lese es in deinen Augen. Weißt du, daß mich keine andere Frau je so angesehen hat? Und wenn ich dich anschaue, empfinde ich etwas, das ich nie zuvor gefühlt habe.«
Ich empfand es auch. Und ich wußte, was es war. Wir führten Auge-in-Auge-Gespräche.
Unvermittelt trafen sich unsere Lippen. Ich schlang die Arme um seinen Hals, und diesmal war es kein fieberhafter Kuß voller Panik und Furcht und brennender Häuser, sondern ich küßte meinen geliebten Gideon so, wie ich es mir erträumt hatte, zärtlich und voller Liebe.
Er hob den Kopf und blickte mich aus grauen, erstaunten Augen an. »Heirate mich, Harmonie«, stieß er hervor und sah plötzlich ganz überrascht aus. »Ja!« bestätigte er lachend. »Das ist es! Wir heiraten!«
Ich war zu bestürzt, um zu antworten.
Er deutete mein Zögern falsch. »Ich kann für dich sorgen, Harmonie. Ich bin sechsundzwanzig und fange an, mir in meinem Beruf einen Namen zu machen. Mit dir als Frau …«
»Ach, Gideon!« rief ich, denn ich sah, daß er es wirklich ernst meinte. »Wir können nicht heiraten! Hast du vergessen, was damals im Drugstore passiert ist?«
»Du kannst unmöglich noch daran denken! Das war ein kleiner Laden und der Besitzer ein ungebildeter Idiot.«
»Gideon, ich gelte hier als Farbige. Das Gesetz verbietet mir, einen Weißen zu heiraten.«
»Dieses Gesetz gilt nicht für uns. Du bist schließlich Amerikanerin.«
»Aber ich bin auch Chinesin.«
»Und ich liebe euch zufällig beide.«
»Und du fällst in mein Leben wie Regen!« rief ich. »Man weiß nie, wann er kommt und wann er geht, ob es ein sanfter Regen oder ein Wolkenbruch sein wird. Ich wünsche mir Beständigkeit, Gideon. Ich möchte ein Heim.«
»Aber das meine ich doch. Ich werde nicht mehr weggehen. Wenn mein jetziger Vertrag abgelaufen ist, bleibe ich in San Francisco. Ich habe schon einen Antrag für das Brückenprojekt eingereicht, und man hat mir mitgeteilt, ich hätte gute Aussichten, den Zuschlag zu bekommen. Sag, daß du mich heiraten willst, Harmonie, dann habe ich alles, was ich mir vom Leben wünsche.«
Aber ich konnte die Szene im Drugstore nicht vergessen – den Kellner, die Kunden, die uns anstarrten und schwiegen, Gideons hilflosen Zorn.
»Und was ist mit Olivia?« fragte ich.
»Olivia? Was soll mit ihr sein? Sie und ich sind lediglich Freunde.«
Aber ich hatte auf den Zeitungsfotos gesehen, wie sie Gideon anschaute. Es war kein »Lediglich-Freunde«-Blick.
»Und deine Mutter?«
»Meine Mutter wird mich verstehen, wenn ich ihr erkläre, wie sehr ich dich liebe. Sie mag kalt und herzlos wirken, aber sie weiß, was Liebe ist. Sie und Richard Barclay verband eine Leidenschaft, wie sie nur wenige Glückliche erleben dürfen. Vielleicht ist sie darum so geworden, wie sie heute ist. Sie begegnete Richard, als sie verwitwet war und sich allein mit einem Kind durchschlagen mußte. Es war eine Romanze aus dem Märchenbuch, und dann verlor sie ihn. Sie kennt die Liebe, Harmonie. Sie wird uns verstehen.«
Ich
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