Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
wollte ich Mrs. Barclay versichern, daß meine Tochter nicht die geringste Ahnung hätte, was sie mit einem Rätselkästchen anfangen sollte, als Iris’ Augen plötzlich klar wurden und an dem Kästchen hängenblieben. Fiona hatte ein zweites Täfelchen aufgeschoben, nur den Bruchteil eines Zolls weit, und drückte gleichzeitig mit den Fingern auf die andere Seite des Kästchens, wo sich ein drittes Täfelchen bewegte. Dann ließ sie alle drei Felder in der Reihenfolge, wie sie sie geöffnet hatte, in die Ausgangsstellung zurückgleiten, bis das Kästchen wieder ein einziges, nahtloses Stück Holz war.
Sofort griff Iris nach dem Kästchen und drehte es in den Fingern hin und her. Dann begann sie zu meinem grenzenlosen Erstaunen schnell und mit Leichtigkeit die drei Täfelchen in der richtigen Ordnung aufzuschieben, als hätte sie das Kästchen schon hundertmal in der Hand gehabt. Aber das war noch nicht alles. Zu meiner noch größeren Verblüffung setzte sie den Vorgang fort, schob Täfelchen fünf, sechs, sieben ohne Zögern hierhin und dorthin, hielt nicht inne, um das Holz zu prüfen, dachte nicht über den nächsten Zug nach. Ihre Hände und Finger flogen, als verfügten sie über einen eigenen Willen, bis sie vor meinen staunenden Augen das Kästchen geöffnet hatte und den Deckel zurückschob. Ein Bonbon lag darin.
Ich war sprachlos. Nie zuvor hatte ich Iris so lange still bleiben sehen, nie erlebt, daß ihre Augen so lange auf demselben Gegenstand ruhten. Ich hatte sie überhaupt noch nie etwas tun sehen. Und nun öffnete sie ein Rätselkästchen!
»Das Mädchen kann das Kästchen behalten«, bemerkte Fiona und sank zurück in ihren Sessel. »Und nun muß ich Sie bitten, mit Ihrer Tochter zu gehen. Ich bin sehr müde. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann.«
»Sehen Sie sich das an!« Mrs. Fong hielt mir einen Krug hin.
Ich blickte vom Schreibtisch auf und musterte stirnrunzelnd die grünliche Masse. »Was ist das?«
»Das soll Strahlende-Intelligenz-Balsam sein. Mrs. Lee, wir müssen diese Sache im Keim ersticken. Es ist schlechte Arbeit.« Mrs. Fong war eine meiner Aufseherinnen, eine Perfektionistin, die ihre Arbeit sehr ernst nahm. Es war das dritte Mal in drei Tagen, daß sie mir ein fehlerhaftes Produkt vorgelegt hatte.
»Schlampige Arbeit«, erklärte sie. » Denen ist es egal.« Sie nickte nach dem Hauptfabrikgebäude hinüber, wo wir jetzt, nachdem der Krieg die Nachfrage nach Medikamenten erheblich gesteigert hatte, rund um die Uhr arbeiteten. »Sie werden bezahlt. Sie gehen nach Hause. Sie kümmern sich um nichts.« Sie, das waren die dreihundert Leute, die ich inzwischen bei der Vollkommene-Harmonie-Gesellschaft beschäftigte.
Der Anblick einer verdorbenen Kiste Mei-ling-Balsam traf mich tief. Ohne Mrs. Fong hätten wir diese Ware vielleicht ausgeliefert, und wer weiß, welcher Schaden arglosen Kunden damit zugefügt worden wäre.
Ich stand vom Schreibtisch auf und ging zu der Anrichte aus Chinalack, die unter dem Fenster stand. Dort hatte ich eine elektrische Kochplatte, einen Wasserkessel, drei rote Ih-Hsing-Tonkannen und alle möglichen Teesorten. Jede einzelne hatte eine spezielle Wirkung. Heute brauchte ich einen Tee, der meine aufgewühlte Yang-Energie besänftigte. Ich litt seit einiger Zeit an Schlaflosigkeit und Beklemmungen, weil ich immer noch kein Heim für Iris und mich gefunden hatte. Wer überhaupt bereit war, uns etwas zu vermieten, bot Häuser in Unglück bringenden oder sogar gefährlichen Gegenden an. Glückliche Orte in der Stadt, an denen positives chi floß und wo auch die Hausnummern voll von Glück waren, waren immer auch Orte, an denen die Weißen keine Chinesen duldeten.
Ich goß mir eine Tasse Tee ein, ließ zwei Kapseln Wonne hineinfallen und sah auf das Gelände der Vollkommene-Harmonie-Gesellschaft hinaus. War mein Unternehmen schon so groß, daß ich die Kontrolle darüber verlor? Goldlotuswein und Zehntausend Yang verkauften sich in ganz Asien so gut, daß unsere Niederlassung in Hongkong den Bedarf kaum decken konnte. Die beiden Arzneien galten bei den Armen als Allheilmittel und wurden auch zur Ersten Hilfe in Kriegsgebieten benutzt. In Amerika war die Versorgung mit Medikamenten schlecht, weil fast alles, was hergestellt wurde, im Kriegsgebiet gebraucht wurde. Deshalb wagten sich mehr und mehr Nichtchinesen in die Kräuterläden und hielten dort nach Hausmitteln Ausschau.
Als ich erkannt hatte, daß sich die dunklen Wolken des
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