Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
konnte ihn nicht sehen.«
»Ihn?«
»Ich glaube, es war ein Mann. Sicher bin ich nicht. Gott sei Dank, daß du die Maschine noch rechtzeitig abgestellt hast. Noch eine Sekunde …«
»Aber ich habe sie nicht abgestellt.«
»Was?«
»Ich kam genau in dem Augenblick, als die Maschine stoppte. Ich war es nicht, Charlotte. Ich hätte es gar nicht rechtzeitig geschafft.«
Sie rieb sich die Stirn und preßte die Finger an die Augen. »Wollte mir der Killer nur Angst einjagen?«
»Oder vielleicht hat jemand anders die Anlage aufgehalten, jemand, der nicht in die Sache hineingezogen werden wollte.«
»Jonathan …« Ihr fiel plötzlich etwas ein. »Ich habe Agent Knight niedergeschlagen.«
»Oh, dem ist nichts passiert. Du hast ihn nicht umgebracht. Ich sah ihn mit einem Eisbeutel auf dem Kopf und nicht besonders gutgelaunt.«
»Da war eine Bombe auf dem Schaltschrank.«
Er ließ den Motor an. »Ich weiß, ich habe sie gesehen. Ziemlich unprofessionell. Ich konnte sie mit einem einzigen Schnitt entschärfen. So, nun aber weg von hier.«
Der Wagen schoß mit quietschenden Reifen davon. Charlotte blickte geradeaus in den Regen und dann auf Jonathan. Nachdem der Schreck allmählich nachließ und ihr Kopf wieder klar wurde, erinnerte sie sich an andere Dinge … zum Beispiel an den Brief, den sie in seiner Brieftasche gefunden hatte. »Du kennst Naomi, nicht wahr?« fragte sie.
Er sah sie nicht an. »Ja«, antwortete er, während das Auto rasch den Parkplatz hinter sich ließ, »ich kenne sie.«
45
1942 – San Francisco, Kalifornien
»Es tut mir leid, Mrs. Lee, aber ich muß Sie bitten auszuziehen.«
Ich betrachtete die Glasscherben auf dem Wohnzimmerfußboden, Folgen eines Steins, der in die Fensterscheibe geworfen worden war, und fragte mich, ob nun die ganze Welt verrückt wurde.
Krieg auf allen Erdteilen und jetzt auch hier in der Stadt, wo brutale Schläger den Leuten mit anders geformten Augen die Scheiben einschlugen.
»Wenn es an mir läge«, fuhr mein Vermieter entschuldigend fort, »na ja, ich meine, ein paar von meinen besten Freunden sind Chinesen. Aber die Nachbarn beschweren sich, weil sie Angst haben, sie könnten ebenfalls zur Zielscheibe werden.«
»Wir werden uns etwas anderes suchen, Mr. Klein«, antwortete ich. »Meine Tochter und ich bleiben nicht dort, wo wir nicht willkommen sind.«
Und so hatte ich wieder einmal kein Zuhause mehr.
Als ich nach Mr. Lees Tod unser Haus in Oakland verkauft hatte, ging ich nach San Francisco zurück, nur um festzustellen, daß ich, obwohl amerikanische Bürgerin, kein Haus kaufen konnte, weil ich keinen Ehemann mehr besaß. Denn das Gesetz verlangte die Unterschrift des Ehemanns. Gideon bot mir an, ein Haus für mich zu erwerben, aber er hatte im Lauf der Jahre schon zuviel für mich getan, und außerdem wollte ich unabhängig bleiben. Ich sagte ihm, mir genüge es, etwas zu mieten, denn ich dachte, das sei ebenso gut. Ich war weder auf einen Weltkrieg eingestellt, noch hatte ich den heraufziehenden Sturm gesehen, der schon bald mein Leben und das vieler anderer entwurzeln würde. Ich hatte diesen erbitterten Haß nicht gekannt, den blindes Vorurteil erzeugen kann.
Chinesen, die außerhalb von Chinatown wohnten, befestigten damals Schilder an ihren Häusern: »KEINE JAPANER – WIR SIND CHINESEN«. Manche trugen sogar kleine Schilder auf dem Rücken, um auf der Straße nicht belästigt zu werden. Ich hatte kein Schild, darum betrachtete man uns als Feinde.
Aber es waren auch unsere Feinde. Als ich vom Fall Singapurs las, bei dem die Chinesen wie Vieh zusammengetrieben wurden, erinnerte ich mich an den Tag, als ich sechzehn war und ein würdiger alter Herr auf dem Bürgersteig stehenblieb, um uns Geld zu geben. Mein Großvater. Hatte er noch vor der japanischen Invasion fliehen können? Und was war aus der übrigen Familie meiner Mutter in dem großen Haus in der Pfauengasse geworden: Goldanmut und Sommermorgenröte, den Gattinnen der Brüder meiner Mutter – Erster Junger Herr und Zweiter Junger Herr – und Mondorchidee und Mondzimt, ihren Halbschwestern? Waren sie entkommen oder dem Krieg zum Opfer gefallen?
In meiner Fabrik hatte ich Arbeiterinnen und Arbeiter getröstet, deren weibliche Verwandte von japanischen Soldaten vergewaltigt und ermordet worden waren. Ich organisierte Veranstaltungen, um Geld für die Vereinigte Chinahilfe zu sammeln. Ich schickte meine Arzneien ins vom Krieg zerrissene China. Ich forderte mein Personal auf,
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