Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
alte Dienerin ihn eines Morgens, als sie zu ihm kamen, im Bett sitzend vor. Er sah kräftiger aus und lächelte. Während die alte Frau in der Ecke hockte und zu ihren Ahnen betete, öffnete Mei-ling die Fensterläden weit, um den sanften Sonnenschein einzulassen. Dann half sie dem Fremden beim Waschen und Rasieren, richtete ihm das Frühstück und stellte das Tablett auf seinen Schoß.
Seit sie zur Tür hereingetreten war, hatte er den Blick nicht ein einziges Mal von ihrem Gesicht gewandt.
Jetzt betrachtete er die Speisen. Seine Brauen zogen sich zusammen. »Habe ich das schon die ganze Zeit gegessen?«
Sie nahm die Eßstäbchen und deutete auf jedes einzelne Gericht. »Won-Ton-Suppe, Sesamhühnchen, in der Pfanne gebratene Nudeln, frische Ananas.«
»Ziemlich vielfältig«, murmelte er mit zweifelnder Miene.
»Gegensätze, die das chi ins Gleichgewicht bringen.«
Er sah sie fragend an.
»Diese Speise ist heiß«, erklärte sie lächelnd. »Die andere dort ist kalt. Diese ist glatt, jene knusprig. So entsteht Harmonie.«
Er lachte, und seine grünen Augen funkelten. »Wenn’s Ihnen nicht ausmacht, hätte ich am liebsten ein paar altmodische Eier mit Speck und dazu schwarzen Kaffee«, sagte er in breitem Amerikanisch.
Mei-ling mußte überlegen, was er gemeint hatte. Sie hatte noch nie amerikanischen Dialekt gehört. Dann sagte sie: »Essen Sie das, und morgen werde ich Eier bringen.«
Als er mit den Fingern nach einem knusprigen Stück Hühnchen griff, nahm Mei-ling sanft seine Hand und legte die Eßstäbchen hinein. Einen Moment sah er auf ihre Finger, die sich um die seinen schlossen, dann blickte er auf, sah sie an, und die beiden tauschten stumm wortlose Botschaften. »Ich weiß nicht, wie man damit umgeht«, sagte er leise. »Meinen Sie, Sie könnten mir ein Messer und eine Gabel besorgen?«
»Messer und Gabel morgen«, bestätigte Mei-ling und blickte auf die beiden Hände, ihre klein und blaß, seine groß und sonnengebräunt. »Und schwarzer Kaffee«, fügte sie schüchtern lächelnd hinzu.
Sein eigenes Lächeln verschwand, als er sie ansah. Er lag da, in die Kissen gestützt, das Laken bis zur Mitte hochgezogen, die Brust entblößt, und studierte die junge Chinesin auf seinem Bettrand. »Sie haben mir das Leben gerettet. Warum?«
»Hätte ich Sie sterben lassen sollen?«
Sein Blick fiel auf ihren Arzneikasten, einen schwarzen Lackkasten, mit roten und goldenen Drachen bemalt, dessen unzählige Schubladen und Fächer offenstanden und kleine Kräutersäckchen, mit Flüssigkeiten gefüllte Fläschchen und verschnürte Päckchen enthielten. »Sind Sie so etwas wie eine Krankenschwester?«
»Mein Vater lehrte mich die alte Heilkunst«, antwortete sie bescheiden.
»Eine ziemlich mächtige Kunst«, meinte er mit schiefem Lächeln. »Das letzte, woran ich mich erinnere, als ich am Boden lag und diese Banditen auf mich eintraten, ist die Gewißheit, die ich hatte, daß ich sterben würde.«
Mei-ling betrachtete ihn mit ernsten Augen. Als er nach ihrer Hand griff, entzog sie sie ihm nicht. »Sie sind so wunderschön«, sagte er.
Am folgenden Tag brachten Mei-ling und ihre Dienerin ihm Eier mit Speck, zubereitet nach den Anweisungen des Chefkochs im Hotel »Raffles«. Der Fremde war von diesem heimatlichen Frühstück so begeistert, daß er alles verschlang – gebratene Eier, Speckstreifen, Kartoffelbrei in brauner Soße, Buttertoast und heißen Kaffee –, ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Als Mei-ling die leeren Teller sah, lächelte sie. Das waren Worte genug.
»Wie lange bin ich schon hier?« fragte er, während er sich mit der Seife und dem Rasiermasser, die sie ihm gegeben hatte, rasierte.
»Drei Wochen.«
Er schaute auf die alte Dienerin, die mit kummervoller Miene in ihrer Ecke saß. »Ich würde Ihnen so gerne erzählen, was geschehen ist«, sagte er zu Mei-ling. »Wenn ich Ihnen nur sagen könnte, wer ich bin und was ich in Singapur vorhatte!«
Trotzdem gab es etliche Sachen, die er wußte. Er wußte, daß er Amerikaner war und sogar, daß der Präsident, der dieses Land zur Zeit regierte, Theodore Roosevelt hieß. Er berichtete Mei-ling von einer Stadt namens San Francisco und davon, daß er glaubte, dort zu wohnen, weil er ihr etwas über Cable Cars, Blumenverkäufer und sein Lieblingsrestaurant auf der Powell Street erzählen konnte. Aber von sich selbst – wer er war, wer seine Familie war, welchen Beruf er hatte – wußte er nichts.
»Mein Gedächtnis kommt
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