Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Allerdings war es kein besonders gutes Englisch, und sie mußte zunächst einen Augenblick über die Frage des Fremden nachdenken, bevor sie eine Antwort formulieren konnte.
»Sie sind in Sicherheit«, sagte sie, und sofort heftete sich sein Blick auf ihr Gesicht.
»Bist du ein Engel?«
Sie lächelte. »Ich bin Mei-ling. Meine Dienerin und ich brachten Sie in dieses Haus. Wie ist Ihr Name? Und wen sollen wir benachrichtigen, damit man Sie hier abholt?«
Der Mann zog die Brauen zusammen. »Ich … ich weiß nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer ich bin.«
»Aii!« kreischte die alte Dienerin, die ahnte, was der Fremde gesagt hatte. »Ein Geist hat sein Gedächtnis gestohlen und wohnt nun in seinem Körper!«
»Schweig«, befahl Mei-ling auf chinesisch. »Reg ihn nicht auf.« Sie legte ihm die Hand auf die Wange und beugte sich dicht über ihn, um in seine Augen zu sehen.
Die alte Frau zitterte vor Furcht, als sie sah, wie ihre junge Herrin dem fremden Teufel ihre Seele auslieferte – denn er starrte Meiling so eindringlich an, daß die alte Dienerin sicher war, daß er nun ihren Geist stahl. Er flüsterte etwas – »du bist so schön« –, und obwohl die alte Dienerin die Sprache nicht wirklich verstand, erkannte sie diesen vertrauten, zeitlosen Ausdruck in seiner Stimme. Unheil war über sie gekommen in dieser verhängnisvollen Nacht – sie sah es an der Art, wie ihre junge Herrin den Fremden anschaute. Sie hatte diesen Blick viele Male in ihrem Leben gesehen, in den Gesichtern von Schwestern und Töchtern, und einmal, vor vielen Jahren, in ihrem eigenen. Es war ein Blick ohne Zeit und überall auf der Welt gleich.
Mei-ling hatte sich verliebt.
Am nächsten Tag kam Mei-ling mit der Wahrsagerin, die, während er schlief, die Handflächen des Fremden studierte. Dann zerbrach sie ein Ei, und als sie den doppelten Dotter sah, schrie sie auf, denn das bedeutete Unglück. »Er ist zwei Männer, Sheo-jay. Der eine wird dich lieben, der andere dich betrügen.«
Dann will ich den lieben, der mich liebt, entschied Mei-ling, und den, der mich betrübt, nicht suchen.
Jeden Tag ging Mei-ling nun in das verborgene Zimmer über Madame Wahs Seidengeschäft und brachte warme Schüsseln mit heilenden Speisen, die sie selbst zubereitet hatte: Rindfleisch mit Fenchel, um das chi wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Kälte aus dem Körper zu treiben, Trüffelreis, um den Überschuß an Yang zu verringern, Karpfensuppe, um das Blut zu nähren. Sie wusch seine Wunden, trug heilende Salben auf und wechselte die Verbände. Auf sein wundes Fleisch legte sie lindernde Packungen, um das zornige Blut darunter zu beschwichtigen. Sie ließ ihn Stärkungsmittel und Wein trinken, hergestellt aus Ginseng-, Yams- und Lakritzwurzel, die sie selbst im Hausgarten der Familie geerntet hatte.
Sie wusch ihn im Bett, wobei sie ihn, um den Anstand zu wahren, mit einem Leintuch bedeckte, und stützte seine Schultern, wenn er zu schwach war, sich zum Essen aufzusetzen. Sie verbrannte Weihrauch für die Göttin Kwan Yin und reinigte die Luft mit besonderen Gebeten. Jeden Tag fragte sie ihn nach seinem Namen. Und jeden Tag antwortete er, er wisse ihn nicht.
Sie fragte nach dem Ring an seiner rechten Hand. Er war aus schwerem Gold und schien zwei ineinander verschlungene englische Buchstaben zu zeigen. »R.B.«, murmelte der Kranke und starrte den Ring stirnrunzelnd an. »Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
Die alte Dienerin hörte nicht auf, sie zu beobachten und vor Angst zu zittern, denn ihre junge Herrin tat verbotene Dinge – sie berührte die Nacktheit eines Mannes, der kein Verwandter, ja nicht einmal ein Chinese war! Wenn Mei-lings Familie je davon erfuhr, würde man sie und mit ihr die alte Dienerin töten. Aber die alte Frau konnte nichts tun, um die Katastrophe zu verhindern. Ihre junge Herrin war verzaubert.
Als Mei-ling die Kleider des Fremden zum Reinigen schickte, durchsuchte sie vorher die Taschen. Sie fand keinerlei Papiere, keine Art von Ausweis, dafür aber eine bedeutende Menge Bargeld in amerikanischen Dollars und britischen Pfund. »Ich weiß nicht, was das für Geld ist«, sagte er. Als Mei-ling fragte, ob sie nach der amerikanischen Vertretung schicken sollte, erwiderte er: »Und was ist, wenn ich ein Verbrecher bin?«
Und so hielten sie seine Anwesenheit im Zimmer über Madame Wahs Seidengeschäft geheim und warteten darauf, daß seine Erinnerung zurückkehrte.
Endlich fanden Mei-ling und die
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