Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
über das Herz ihres Vaters gebot. Ganz und gar unchinesisch, pflegten die älteren Frauen zu sagen, vor allem diejenigen mit erwachsenen, unverheirateten Söhnen, so in eine Tochter vernarrt zu sein, ihr derartige Freiheiten zu gestatten, sie zwanzig Jahre alt werden zu lassen und immer noch nicht zu verheiraten! Aber ihr Gezeter und Gemecker stieß bei Mei-lings Vater auf taube Ohren, denn er war stolz darauf, seine älteste Tochter so gut unterrichtet zu haben, daß sie Schreibkunst und Heilkunde so gut beherrschte wie er selbst oder ein anderer angesehener Arzt.
Natürlich durfte sie nur Frauen behandeln. Hauptsächlich band sie Füße ein, denn sie war in ganz Singapur bekannt für ihre sanften Hände, und half bei Geburten. Die Frauen sagten, sie brächte Glück und wüßte, wie man ein Baby ohne Schmerzen aus dem Mutterleib lockt.
» Hilfe! Hilfe !«
Mei-ling blieb in der von Menschen wimmelnden Straße stehen. »Was war das?« fragte sie die Dienerin.
Sie horchten auf die Musik, das Gelächter und das vor dem Nachthimmel explodierende Feuerwerk. »Was denn, Sheo-jay?« fragte die alte Frau, wobei sie sich der höflichen Anrede »Junge Herrin« bediente.
»Hast du nichts gehört?«
»Hilfe!«
»Da ist jemand in Not!« Mei-ling sah sich auf der mit Chinesen und Malaien in Festtagskleidung überfüllten Straße um. Sie fand keinen Ausländer, und doch war der Ruf in englischer Sprache gewesen.
»O Gott!«
»Dort!« Sie deutete in eine schmale Gasse. »Da ist jemand in Schwierigkeiten!«
»Aber Sheo-jay …«
»Schnell!«
Sie rannte in die Gasse hinein, so schnell es ihre winzigen Füße und ebenso winzigen Schritte erlaubten. Die Dienerin, älter, dikker und mit dem schweren Arzneikasten aus Ebenholz beladen, schnaufte hinter ihr her. In der Gasse, die hinter einer Ladenzeile verlief, erkannten sie eine Gruppe von Männern, die auf einen am Boden liegenden Mann eintraten.
»Aii!« schrie die Dienerin. »Zurück, Sheo-jay! Unglück! Die Nacht der Geister!«
Aber Mei-ling ließ sich nicht aufhalten. Sie rief laut und schwenkte die Arme. Die Männer kümmerten sich zunächst nicht darum, aber als Mei-ling in das Licht der im Wind schaukelnden Laterne trat und die Männer ihr seidenes Kleid und die winzigen Füße, die Haarfrisur mit den Kämmen und Ornamenten sahen und in ihr damit die Frau eines reichen Mannes erkannten, machten sie kehrt und flohen barfüßig und geräuschlos die Gasse hinunter.
Mei-ling ließ sie laufen. Rasch kniete sie neben dem Verletzten nieder. Er war bewußtlos und stöhnte. Blut befleckte das weiße Jackett und Hemd, ebenso die weißen Hosen.
»Ein fremder Teufel, Sheo-jay!« warnte die Dienerin und zeichnete hastig ein Schutzzeichen in die Luft. »Bringt Unglück!«
Aber Mei-ling legte die Hand auf seine blutige Stirn. Er hatte blondes Haar, und als sie ein Augenlid hob, fand sie darunter eine grüne Iris.
Der prophezeite Amerikaner.
»Nicht anfassen!« kreischte die Dienerin. »Bringt Unglück!«
Aber Mei-ling blieb ruhig, eher fasziniert als ängstlich. »Er ist verletzt«, erklärte sie. »Wir müssen ihm helfen.«
»Ich hole die Polizei.«
»Nein.« Mei-ling hielt sie zurück. »Dieser Mann ist mir in einem Traum angekündigt worden. Es hat seinen Grund, daß ich zu ihm geführt wurde.«
»Ja, um die Polizei zu holen!«
Mei-ling richtete sich auf und sah sich in der Gasse um. Es war kaum jemand unterwegs. Das einzige Leben kam von den Schatten, die mit den im Nachtwind schwingenden Laternen über die Pflastersteine tanzten. »Dort drüben.« Sie deutete auf das Seidengeschäft von Madame Wah. »Geh dorthin. Bitte Madame Wah, ihren stärksten Sohn zu schicken.«
Die Dienerin gehorchte aus Furcht, eine von den Göttern gesandte Prophezeiung zu mißachten, aber sie tat es widerwillig und drehte sich dabei ständig nach ihrer Herrin um, die sich erneut über den am Boden liegenden Fremden beugte.
Madame Wah befahl ihrem größten Sohn, den Bewußtlosen in ihren Laden zu bringen und ihn dann nach oben in ein kleines Zimmer zu tragen, das auf die Gasse hinausging. Sie tat das nicht für den Ausländer, sondern für Mei-ling, die ihr im letzten Winter heimlich einen Kräutertrank gegeben hatte, als nach dem Besuch eines besonderen Gastes in ihrem Haus Madame Wahs Monatsblutung zwei Monate lang ausgeblieben war. Madame Wahs Ehemann war auf Reisen gewesen. Sie hätte ihm nicht vormachen können, daß das Kind von ihm stamme. Mei-lings Trank hatte Madame Wahs Körper
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