Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
die Mondphasen zurückgegeben, und dafür würde sie ewig dankbar sein.
»Rufen wir jetzt die Polizei?« fragte die alte Dienerin wieder, nachdem man den Fremden auf ein Bett gelegt hatte und sie mit ihm allein waren.
»Still«, erwiderte Mei-ling und öffnete rasch den Arzneikasten. »Willst du dich einer göttlichen Prophezeiung widersetzen?«
»Aber vielleicht ist es das, was damit gemeint ist – daß Sie die Polizei holen sollen.«
Mei-ling schüttelte nur den Kopf und fing an, die Wunden des Mannes zu säubern. Jeder Vorübergehende hätte die Polizei rufen können. Ihr Weg hatte den dieses Fremden aus einem anderen, wichtigeren Grund gekreuzt. Wenn er aufwacht, dachte sie, werde ich es wissen.
Als sie ihm vorsichtig das Hemd aufknöpfte, setzte sich die alte Dienerin auf den Fußboden und begann zu jammern. Zu sehen, wie ihre vornehme Herrin sich so erniedrigte, wie eine aristokratische Tochter Singapurs ihre Keuschheit entehrte, indem sie auf den Körper eines Mannes blickte und ihn dann auch noch berührte!
Mei-ling starrte auf das blasse, blutunterlaufene Fleisch. »Was haben sie ihm angetan!« flüsterte sie voller Empörung. »Wie sie ihn verletzt haben!« Aus ihren Augen tropften Tränen auf seine nackte Brust.
»Vielleicht hat er es ja verdient!« zeterte die alte Dienerin. »Vielleicht ist er ein böser Mensch, Sheo-jay! Ein Dieb, ein Ehebrecher oder noch Schlimmeres!«
Aber Mei-ling strich ihm das blonde Haar aus der Stirn, berührte sacht die geschlossenen Augen und wußte, daß er kein böser Mensch war.
Sie mußte schnell arbeiten. Man erwartete sie zu Hause, und die Familie würde sich wundern, wo sie blieb. Zuerst wusch sie seine Wunden mit einer beruhigenden, keimtötenden Flüssigkeit aus den Wurzeln der weißen Päonie, besprenkelte sie mit pulverisiertem Tintenfisch, um die Blutung zu stillen, und verband sie. Dann fühlte sie, wie ihr Vater es sie gelehrt hatte, seinen Puls an den zwölf Punkten, die den Zustand der lebenswichtigen Organe verrieten. Ihre empfindlichen Fingerspitzen streiften über Handgelenk, Hals und Füße des Fremden und registrierten den Kampf zwischen seinem versagenden Yin und dem verängstigten Yang. Sie hob seine Lider und beobachtete die Pupillen, sie legte die Hand auf seine bloße Haut und berechnete den Grad der Leere, den Mangel an Hitze und die Stellen, an denen sein Geist bebte.
Madame Wah brachte eine dampfende Schale Pinienkernbrühe für den verletzten Fremden und Curryreis mit würzigen Shrimps, Mandelkuchen und grünen Tee für Mei-ling und ihre Dienerin. Sie stellte keine Fragen, als sie die Schüsseln hinstellte und ein kleines Kohlenöfchen anzündete, das den Tee warm halten sollte.
Ohne Mei-lings Saflortrank zur Wiederherstellung ihres Monatsflusses wäre Madame Wah unter den Händen ihres Gatten gestorben. Statt dessen hatte er ihr Perlen und Duftwässer geschenkt, um sie so für ihre Treue zu belohnen.
Mei-ling sah besorgt, daß der Fremde nicht aufwachen wollte. Sie fragte sich, ob die Wunde an der Schläfe eine unheilbare Störung des Gleichgewichtes der Winde, die durch seinen Kopf wehten, verursacht hatte. Sie legte die Hände auf seine Rippen und unter seine Mitte, um ein inneres Ungleichgewicht zu ertasten. Sie studierte seine ebenmäßigen Gesichtszüge. Sie tropfte ihm Nelkenöl auf die Lippen. Dann zwickte sie ihn in die Wangen, um seinen Geist zurück in den Körper zu scheuchen, und schlug ihn sanft auf die Arme, um seine schlummernde Stärke zu wecken.
Endlich konnte sie nicht länger zögern. Sie mußte fort. »Du bleibst bei ihm«, befahl sie der alten Dienerin, die sich nach dem festlichen Mahl aus Shrimps und Reis, von dem ihre junge Herrin nichts angerührt hatte, erheblich beruhigt hatte. »Morgen bringe ich die Wahrsagerin hierher, damit sie mir sagt, was ich tun soll.«
Eben wollte die alte Frau protestieren, als der Fremde erwachte. Seine Augenlider flatterten, die Pupillen versuchten sich zu konzentrieren. Blinzelnd starrte er auf Mei-ling. »Bin ich … bin ich tot?«
Weil Mei-lings Vater ein Wanderer zwischen zwei Welten war, zwischen der chinesischen und der britischen, stolz darauf, modern zu sein und Freundschaften und Geschäftsbeziehungen zu Engländern zu unterhalten, schenkte das Haus in der Pfauengasse häufig auch Besuchern aus dem Westen seine Gastfreundschaft. Für diese Anlässe, bei denen sie wichtigen Gästen den duftenden Tee einschenkte, hatte Mei-ling von ihrem Vater Englisch gelernt.
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