Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
verheiratet, meine Liebste. Vor Gott und in unseren Herzen sind wir Mann und Frau.«
Und dann beging Mei-ling ihren verhängnisvollen Fehler.
Eines Abends kamen vornehme Gäste ihres Vaters in das Haus in der Pfauengasse, Engländer, die über die Gärten und Innenhöfe und geschwungenen Dachbalken dieses so ungemein chinesischen Heimes in Rufe des Entzückens ausbrachen. Mei-ling bewirtete sie mit Tee und Mandelkuchen und fragte dabei einen der Gäste, einen auf Störungen des Geistes spezialisierten Arzt, ob es möglich sei, nur einen Teil seiner Erinnerungen zu verlieren, die übrigen aber zu behalten. Und während der Ausländer ihr erklärte, wie wenig man im Grunde über den menschlichen Geist wisse, beobachtete ihr Vater die beiden mit nachdenklicher Miene. Er tat es nicht, weil Mei-ling einem Fremden Fragen stellte – er hatte sie stets ermutigt, Wissen zu suchen –, und auch die Art der Frage störte ihn nicht, denn auch er hielt den menschlichen Geist für ein höchst faszinierendes Thema. Nein, es war die Art, wie der Engländer Mei-ling ansah, die ihrem Vater die Augen für eine Wahrheit öffnete, der er lange ausgewichen war: Seine schöne Tochter konnte nicht länger unvermählt bleiben.
Die Tanten kamen von weit her, aus dem Dorf der Ahnen in einer südchinesischen Provinz. Und noch während sie lächelte, ihnen Tee einschenkte und so tat, als fühle sie sich geehrt, von ihnen auf ihre Eignung als zukünftige Schwiegertochter geprüft zu werden, hatte Mei-ling ihre Entscheidung bereits getroffen: um der Liebe zu ihrem Amerikaner willen würde sie Schande über ihre Familie bringen.
Einen Tag später packte sie, sorgfältig und vorsichtig, damit die Dienerinnen nicht mißtrauisch wurden. Sie nahm nur das Nötigste und ihre ganz persönlichen Sachen mit – und ihren Arzneikasten. Ihrer Schwägerin Goldanmut sagte sie, man habe sie in ein Haus auf der anderen Seite der Insel gerufen, um bei einer Entbindung zu helfen.
Dann verließ sie das Haus ihres Vaters, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Sie kehrte ihrem Leben, ihrer Familie und ihrer Kultur den Rücken und eilte, so schnell sie konnte, zu dem Seidengeschäft am Hafen.
Doch als sie dort ankam, war ihr Amerikaner nicht da.
Er hatte einen Brief hinterlassen.
»Liebste Mei-ling, vergib mir. Ich habe gewartet, solange ich konnte. Nun aber geht die Sonne unter, und Du bist noch nicht hier. Ich weiß wieder, wer ich bin, und ich muß fort. Ich habe das Geld genommen, um mir eine Schiffspassage zu kaufen. Mein Trost ist, Dich bis zu meiner Rückkehr im Haus Deines Vaters zu wissen. Ich komme zurück, meine Liebste, um Dich zu heiraten. Aber vorher muß ich noch etwas erledigen …«
Sie rannte zum Fenster und starrte hinaus. Wohin? Wo in diesen überfüllten Gassen steckte er? Ihr Aufschrei verjagte die Tauben, die unter den Dachbalken gehockt hatten. War das die Strafe dafür, daß sie ihre Familie entehrt hatte?
Sie blickte auf den Ring an ihrem Finger – natürlich war er kein echter Trauring. Und sie hatte keinen Gatten. Mit Augen voller Tränen las sie noch einmal seinen Brief und die Unterschrift darunter – Richard.
Dann legte sie die Hand auf ihren Bauch … denn dort war ich, so fing ich an, daher kenne ich diese Geschichte, darum kann ich die ganz persönlichen Gedanken und Gefühle der Beteiligten beschreiben, und die Ereignisse, die so lange zurückliegen. Ich weiß es, weil meine Mutter es mir erzählt hat. Denn der Amerikaner namens Richard hinterließ Mei-ling nicht nur einen Brief und einen Ring, sondern noch ein anderes Geschenk: mich, ihre Tochter. Ich wurde acht Monate später geboren, und meine Mutter nannte mich Vollkommene Harmonie, um sicherzugehen, daß ich mich immer guter Gesundheit und eines langen Lebens erfreuen würde.
Und damit beginnt die Geschichte unserer Familie.
8
19 Uhr – Palm Springs, Kalifornien
Durch den Regen sah Charlotte die roten Lichter aufblitzen. Die Sanitäter waren schon da. »Gott sei Dank«, sagte sie zu Valerius Knight, der am Steuer saß. »Beten wir nur, daß sie rechtzeitig gekommen sind.«
Nachdem sie gesehen hatte, wie Yolanda aus einer Tasse getrunken hatte und zusammengebrochen war, war Charlotte fluchtartig aus dem Museum gerannt und auf dem Parkplatz mit Knight zusammengetroffen. Als sie ihm sagte, ihre Haushälterin sei in Gefahr, hatte er zweien seiner Männer einen Wink gegeben und ihr dann vorgeschlagen, sie zu fahren. Charlotte nahm das Angebot an. Sie
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