Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
schabte über den Holzfußboden.
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Charlie.« Es klang flehend.
»Danke für das Essen.« Sie griff nach der Schachtel mit dem Seidentuch und dem Windspiel und fand irgendwie den Ausgang, den Bürgersteig und entkam, von der Sonne geblendet, die Straße hinunter.
Sie hatte ihn nicht wiedergesehen.
Und nun, zehn Jahre später, schaute sie ihm zu, wie er sein Handy nahm und wählte, um selbstsicher, fast gebieterisch, einen weiteren Spezialagenten zu verlangen, und sie dachte: Johnny, du hast gesagt, du hättest von Großmutters Tod gelesen. Warum hast du mir damals nicht geschrieben? Oder wenigstens ein Telegramm geschickt? Bedeutete ihr Verlust dir so wenig? Oder lag es daran, daß ich damals weggelaufen bin?
Sie tastete nach dem Shang-Dynastie-Anhänger auf ihrer Brust und dachte daran, wie wichtig und bedeutend er für sie war. Sie stellte sich seinen Inhalt vor. War es wirklich nur Zufall gewesen, daß sie die Kette, als sie sich sofort nach Desmonds Anruf hastig angezogen hatte, noch umgelegt hatte? Sie hatte den Anhänger seit Monaten nicht getragen.
Es ist kein Zufall. Es ist ein Zeichen …
Als wollte sie die schmerzliche Erinnerung fortwischen, rieb sie sich die Hände an der Serviette ab und trat an die Tür zum Museum. Vor sich sah sie den Nachbau eines chinesischen Kräuterladens, mit Theke und Regalen, Waage und Abakus und allen Arten von Essenzen und Substanzen, die in die Heilmittel hineinkamen: Flaschen mit konservierten Aalen, Fässer mit eingelegten Wurzeln, getrocknete Blätter, Gräser und Blumen, Säcke mit Rinde, Gewürzen, Reis, Krüge mit getrockneten Skorpionen, Schlangen und Käfern. Ein Füllhorn von Balsamen, Elixieren, Heil- und Stärkungsmitteln. Und in einem der obersten Fächer eine riesige, schlafende weiße Perserkatze …
Während sie noch dastand und den alten Laden betrachtete, ertönte vom Computer ein Signal. Charlotte fuhr herum. »Was gibt es?«
»Das darf nicht wahr sein! Ein neues Video.«
Sie hatte schon damit gerechnet, wieder das Innere ihres Hauses zu sehen, aber zu ihrer Überraschung erschien eine Außenaufnahme. Sie zeigte ein Wohnviertel bei Nacht und starkem Regen. »Ist das echt, oder …«, begann Charlotte und stockte. »O mein Gott.«
»Was ist?«
»Das ist Naomis Haus. Jonathan, das ist von der gegenüberliegenden Straßenseite aufgenommen.« Sie packte ihn am Handgelenk. »Kannst du herausfinden, ob das gefälscht oder echt ist?«
»Warte.« Er setzte sich hin und gab einen Suchlauf ein. Während sie warteten, sah Charlotte ein Auto herankommen und anhalten. Sie kannte den Wagen. »Es ist Naomi!«
»Scheiße«, flüsterte Jonathan, als in dem DOS-Fenster die IP- Adresse auftauchte. »Diese Sendung kann von überall herkommen.«
»Aber ist es echt?«
»Das kann man nicht feststellen.«
Sie sahen Naomi auf der Fahrerseite aussteigen. Sie hielt sich einen Schal über den Kopf und rannte die Auffahrt zu einem von Farnbäumen und Azaleen umgebenen rosa Stuckhaus hinauf.
»Irgend etwas wird passieren, Jonathan. Diesmal ist es echt.« Sie griff zum Telefon.
»Woher weißt du das?«
»Naomi und ich haben heute morgen zusammen Kaffee getrunken, bevor sie zur Universität fuhr. Sie hatte diese Sachen an.«
Jonathan griff nach seinem Handy. »Welche Nummer hat die Polizei?«
»Nimm lieber den Notruf.«
»Und wenn es wieder ein falscher Alarm ist? Du hast sie schon einmal vergeblich losgeschickt.«
Ihre Blicke trafen sich. »Ruf die Vermittlung an, Johnny. Verlang die Polizeistation Palm Springs.«
Charlotte wählte Naomis Nummer, zitterte aber so heftig, daß sie sich verwählte. Während sie es noch einmal versuchte, beobachete sie mit angehaltenem Atem, wie Naomi an der Haustür stehenblieb und aus der Handtasche einen Schlüsselbund herauszog.
Inzwischen ließ Jonathan sich mit der Polizei verbinden. Bei Naomis Anschluß war das Besetztzeichen zu hören. Naomi schob den Schlüssel ins Schloß und drehte den Knauf.
»Ich fasse es nicht«, sagte Jonathan ungläubig. »Es ist ein Tonband. Ich bin in der Warteschleife.«
Naomi schob die Haustür auf, aber gerade, als sie eintreten wollte, schoß plötzlich etwas Kleines, Dunkles heraus und raste den Weg hinunter. Naomi fuhr herum und rief etwas.
»O Gott, hoffentlich ist es nur ein Video, das mir Angst einjagen soll«, betete Charlotte und wählte mit bebenden Fingern weiter.
»Ja, Officer«, begann Jonathan hastig, als auf dem Revier endlich jemand abnahm.
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