Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
auch kommt.« Daraufhin hatte sie ihre sogenannten Freundinnen und Freunde wieder ausgeladen und ihre Party allein mit Jonathan gefeiert. Sie waren Cable Car gefahren, hatten im Golden-Gate-Park Blumen gepflückt und in der Ross Alley gedünstetes Won-ton und Frühlingsrollen verschlungen.
Was für ein wohlerzogener Esser er doch geworden ist, dachte sie jetzt. War das derselbe Mensch, der einmal erklärt hätte, Essen müsse ein »Ganzkörpererlebnis« sein? Damals tat er unerhörte Dinge, aß Spaghetti und Spiegeleier mit den Fingern und ließ Messer und Gabel unberührt auf dem Tisch liegen. Noch vor zehn Jahren hatte er sich sein Brötchen auf der Hand geschmiert, obwohl es damals bereits gewisse Anzeichen von Verfeinerung gegeben hatte. Sie fragte sich, ob auch seine Art zu lieben sich geändert hatte – früher hatte Jonathan keine Hemmungen gekannt. Sex mit ihm war ebenfalls ein »Ganzkörpererlebnis« gewesen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob er jetzt auch im Bett so wohlerzogen war.
Jonathan stellte die Schale hin und sah auf den größeren Computer, der noch immer die Datenbank absuchte. »Charlotte, hast du zufällig einen Tiegel mit diesem Balsam griffbereit? Strahlende Intelligenz ?«
»Es müßte noch etwas hier sein.« Sie öffnete eine Schreibtischschublade und nahm einen kleinen Topf Mei-ling-Balsam, eine Flasche Goldlotuswein, eine Packung Wonne und eine Schachtel Keemun-Tee heraus.
Während Jonathan den Tiegel öffnete und an dem duftenden Inhalt roch – wiederum eine elegante, geschliffene Bewegung –, überlegte Charlotte, was sich in den zehn Jahren der Entfremdung wohl noch alles an ihm geändert hatte. Plötzlich wollte sie die Lücken füllen. »Wie geht es eigentlich deinem Vater, Johnny?«
»Ausgezeichnet. Sie wohnen jetzt in Hawaii.«
»Sie?«
»Ach ja, richtig, das weißt du ja nicht. Er hat geheiratet.«
»Du machst Witze.«
»Ich war auch ganz verdattert.« Er stand auf, zog das Portemonnaie aus der Hüfttasche und klappte das Farbfoto eines lächelnden Paares unter einer Palme auf.
»Aber das ist doch Miss O’Rourke!«
»Seine getreue Sekretärin. Du erinnerst dich.«
»Wie könnte ich sie vergessen! Sie war öfter bei euch zu Hause als dein Vater. Wie ist denn das gekommen? Haben sie sich plötzlich ineinander verliebt – nach wie vielen Jahren?«
»Tja, für meinen Vater kam es jedenfalls plötzlich. So wie er es erzählt, waren sie gerade wie üblich mit der Limousine zum Flughafen gefahren, und Vater wollte ins Firmenflugzeug steigen, um Gott weiß wohin zu fliegen, und alles in Miss O’Rourkes bewährten Händen lassen, wie seit zwanzig Jahren. Sie gab ihm seinen Aktenkoffer, wie immer, und auf einmal sagte sie in ihrem ›feinen‹ breiten Irisch: ›Wenn Sie wiederkommen, Mr. Sutherland, verlasse ich Sie. Ich habe Ihnen zwei Jahrzehnte lang treu gedient, Ihnen stets auf jeden Wink zur Verfügung gestanden, für Sie auf ein eigenes Leben verzichtet. Aber ich werde nicht jünger, und es wird Zeit, daß ich auch einmal etwas für mich tue, solange mir noch ein paar Jahre übrigbleiben.‹ Worauf sie, sagt mein Vater, in Tränen ausbrach, vor den Augen des Chauffeurs und des Piloten, und so lange schluchzte und schluchzte, bis mein Vater nicht anders konnte, als sie in die Arme zu nehmen und zu trösten.«
»Das glaub ich nicht.«
»Und weißt du, was er noch gesagt hat? Er hat gesagt, vorher wäre ihm nie aufgefallen, was sie für schöne rote Haare hatte.« Er steckte das Bild wieder ein. »Eine Woche später haben sie geheiratet, und auf einmal gab es große Weihnachtsessen und herzliches Rückenklopfen und Ausrufe wie ›Johnny, mein Junge‹! Neunundzwanzig Jahre nach der Geburt seines Sohnes wurde aus Robert Sutherland überraschend ein Vater.«
Robert Sutherland, der jemanden tröstete! Mit plötzlichem Bedauern dachte Charlotte: Ich habe soviel verpaßt.
Gegen ihren Willen kam ihr wieder der Tag in den Sinn, mit dem ihre ganz persönliche Eiszeit angefangen hatte, damals in dem Restaurant in San Francisco. Sie waren beide höflich und reserviert gewesen, nach sechs Jahren, in denen sie kaum voneinander gehört hatten. Zwischen ihnen stand der Gedichtband mit den Gewinnern des Silberlorbeerkranzes von 1981, den er ihr vor sechs Jahren geschickt und der ihr das Herz zerrissen hatte. Warum hatte er ihr jetzt auf einmal geschrieben und um ein Treffen gebeten? »Wir müssen getrennte Wege gehn«, hatte es in einem Gedicht geheißen. Und Charlotte,
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