Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
»Ich möchte einen Vorfall …«
»Jetzt ist frei!« rief Charlotte.
Gleich darauf leuchtete ein blendend helles Licht auf. Die Vorderfenster sprangen in Scherben nach außen, Flammenzungen loderten durch die offene Tür, und ein Feuerball explodierte in den Nachthimmel.
22
1925 – San Francisco, Kalifornien
Glaubte der Dieb wirklich, er hätte mir alles genommen?
Er hatte meine Smaragde und meine amerikanischen Dollars gestohlen, meine Perlenkette und die Jadeohrringe. Aber er hatte die Lebensmittel in der Küche zurückgelassen, die Kräuter, Wachse und Öle, die ich für meine Arzneien brauchte, eine Flasche mit dem Stärkungswein meiner Mutter, einen Krug mit ihrem geheimen Balsam, und meine beiden Ih-Hsing-Teekannen. Hielt dieser Tor Smaragde für wertvoller als Heilmittel?
Als ich zum Juwelierladen gegangen war, hatte ich meine Papiere bei mir gehabt, weil ich dachte, ich müßte mich vielleicht ausweisen. Deshalb besaß ich, obwohl ich nun mittellos war, noch immer meine Identität, das Foto von mir aus der Missionsschule und auch den Brief meines Vaters an meine Mutter.
Ich berichtete Mrs. Po von dem Einbruch. Sie fragte, ob ich trotzdem die Miete bezahlen könnte. Ich sagte ja, aber ob sie den Vorfall denn nicht melden wollte. »Wem denn?« sagte sie.
Der Dieb hatte auch meine Seidenkleider und die teuren Schuhe und Handtaschen dagelassen. Ich verkaufte alles und erstand mit dem Geld noch mehr Kräuter, Mineralien und Mixturen, dazu einen Dampfkochtopf, einen Seiher, Töpfe, eine Waage, Nesseltuch, einen Mahlstein, Krüge, Papier und Schnur. Denn das Wertvollste hatte der dumme Dieb übersehen: das kleine Buch, in dem meine Mutter alle ihre Rezepte für die Heilmittel aufgezeichnet hatte.
Ich würde sie herstellen und an die Einwohner von Chinatown verkaufen.
Um Geld zu sparen, zog ich in Mrs. Pos Haus in eine kleinere Wohnung, ein Stockwerk tiefer. Es war nur ein Zimmer, mit einer elektrischen Kochplatte statt einer Küche. Aber es gab ein Spülbecken, und so hatte ich alles, was ich zur Arbeit brauchte. Mrs. Po ermahnte mich nochmals: »Keine Männer!«, denn offenbar glaubte sie, alle Mädchen, die allein lebten, seien Prostituierte.
Ich suchte weiter nach meinem Vater.
Zuerst mußte ich wissen, wie man den Namen schrieb. Ich hatte ja nur gehört, wie der Juwelier ihn aussprach. Hieß es Barklay, Barklie oder Barclay? Es gab so viele Möglichkeiten. Und wo sollte ich es herausfinden? Zu dem Juwelierladen konnte ich nicht zurückgehen. Die Polizei würde mir keine Auskunft geben. Mein Vater schien so unerreichbar wie der Mond und die Sterne.
Und genauso verhielt es sich mit der Liebe, die sich an jenem Tag in dem Juweliergeschäft in mein Herz gebrannt hatte.
In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten konnte ich die rauchgrauen Augen und das leicht schräge Lächeln ebensowenig vergessen wie die Art, mit der der junge Mann mich angestarrt hatte, als ich den Laden betrat – so, als hätte auch er den Blitzschlag gespürt. Meine Liebe zu ihm wurde immer größer, eine furchtbare, verbotene Liebe, denn er war mein Bruder.
Jede Nacht vor dem Einschlafen sah ich sein schönes Gesicht vor mir, aber dann drängte sich die Stimme des Juweliers dazwischen, verhöhnte mich und erinnerte mich an meine Sünde: »Da ist sie, Mr. Barclay. Das Mädchen, das den Ring Ihres Vaters gestohlen hat.«
Man hielt mich also für eine Diebin. Ich mußte einen anderen Weg zu meinem Vater finden.
Zu meinen Mitmietern in Mrs. Pos Haus gehörte ein sanfter junger Mann namens Mr. Lee, ein Künstler, der chinesische Tuschebilder für Touristen malte. Nach dem Wohnungseinbruch bot er mir seine Hilfe an, aber ich wollte nicht, daß er mir Geld gab. Als ich nach unten in das kleinere Zimmer zog, wiederholte er in seiner schüchternen Art das Angebot. Aber ich konnte seine Wohltätigkeit nicht annehmen. Eines Abends jedoch, als ich mit meinem schweren Korb voller Arzneien, die ich in den Straßen von Chinatown zu verkaufen versucht hatte, die Treppe hinaufkam, nahm mir Mr. Lee den Korb ab und trug ihn den Rest der Stufen. Er lud mich zum Tee ein und erzählte mir von sich. Er stammte aus Hawaii und hoffte, seine Familie nach Kalifornien nachholen zu können. Auch ich erzählte ihm von mir und meiner Suche nach einer bestimmten Person.
So erfuhr ich, daß Leute, die ein Telefon besaßen, in einem städtischen Buch aufgeführt waren. Mr. Lee, der in seinem Atelier an der Stockton Street über einen Apparat
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