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Das Haus der kalten Herzen

Das Haus der kalten Herzen

Titel: Das Haus der kalten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Singleton
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vorsichtig.
    »Wer bist du?«, sagte sie. »Ich habe ein Bild von dir gesehen, in einem Buch. Es hieß Das Haus der kalten Herzen. Es handelte von Century, dem Haus.«
    Claudius strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich bin ein Teil der Geschichte des Hauses«, sagte er.
    »Du bist also doch ein Geist?«
    »Nein, kein Geist. Ich bin genauso lebendig wie du«, sagte er. Er ergriff ihre Hand. Seine Hand war viel wärmer als ihre. Seine Finger brannten.
    »Siehst du«, sagte er. »Kein Geist.«
    Mercy zog ihre Hand weg. »Und woher weißt du von mir? Wie kann es sein, dass du von den Geistern weißt?«
    »Du bist auch ein Teil der Geschichte des Hauses«, sagte er. »Wir waren einmal Freunde.«
    Mercy schüttelte den Kopf. »Vielleicht stimmt das«, sagte sie. »Aber ich erinnere mich nicht daran.«
    »Ich will dir deine Freiheit wiedergeben, Mercy«, sagte er. »Dein Vater und seine Dienstboten wollen dich weiter im Dunkeln halten.« Seine Augen glänzten in der Finsternis des Bootshauses. Wieder lag die eine Hälfte seines Gesichts im Schatten, auf die andere fiel der blasse Mondschein.
    »Mich im Dunkeln halten?«
    »Ich bin hierhergekommen, weil ich dich finden wollte. Ich habe dir ein Schneeglöckchen mitgebracht, als Botschaft, als Wegweiser zum Teich auf der Brennereiwiese«, sagte Claudius. »Jetzt musst du den Geist wiedersehen. Es wird Zeit für dich aufzuwachen. Sammle alle Teile, Mercy. Setze sie wieder zusammen und finde die Wahrheit über deine Mutter heraus.«
    »Ich verstehe nicht«, sagte Mercy.
    »Ich werde dich bald wiedersehen«, sagte er. Ängstlich schaute er sich um und spähte zur Tür hinaus. »Ich kann nicht lange bleiben. Sprich mit dem Geist. Ich habe dich zu ihr geschickt. Sie wird dir helfen.«
    Er trat aus dem Bootshaus hinaus. Mercy stand auf. Doch als sie an die Tür kam, war Claudius verschwunden.
    Wie viel Zeit sie noch hatte, wusste Mercy nicht. Sobald Charity ihren Unterricht unterbrach und eine Pause machte, würde Galatea ihr Zimmer kontrollieren. Vielleicht wussten sie schon, dass sie nach draußen gegangen war. Aber sie musste den Geist im Teich sehen. Von der Brennereiwiese bis zum See waren es etwa zwanzig Minuten, wenn sie sich beeilte. Im Kopf ratterten ihre Gedanken, während sie mit langen, ermüdenden Schritten davoneilte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie Claudius vertraute. Ob er von diesem anderen, lichteren Ort kam? Dem Century, das sie besucht hatte? Dem Century vielleicht, von dem die Geister kamen?
    Oben auf dem Hügel betrat Mercy die Gärten. Auf der anderen Seite, wo die Wiese auf abschüssigem Gelände lag, kam sie wieder heraus. Ihr Gesicht war feucht und heiß. Sie nahm die Mütze ab und setzte ihren Kopf so der kalten Luft aus.
    Der Teich, ein schwarzes Loch in der Wiese, war klein und tief. Hier sammelte sich das Wasser von den Feldern. Schwach erinnerte sie sich, dass es hier im Frühling Blumen und kohlschwarze Sumpfhuhnküken gab. Wie lang war der letzte Frühling her?
    Mercy lockerte ihren Schal und setzte sich auf die kalten Wurzeln eines Weißdornbusches am Teich. Sie fragte sich, ob der Geist wohl wieder auftauchen würde. Das erste Mal war die Frau im ersten Licht vor Sonnenaufgang unter dem Eis vorübergeglitten. Doch bis zum Morgengrauen waren es noch viele Stunden. Mercy wartete. Sie zog sich ihre Mütze wieder über die Ohren und stapfte ungeduldig um den Teich herum. Dabei stellte sie sich den Aufruhr im Haus vor und wie Aurelia und Galatea nach ihr suchten.
    »Komm schon«, murmelte sie leise. »Komm, zeig dich.«
    Inzwischen stand der Mond höher. In der Ferne bellte ein Fuchs in einer verwilderten Hecke. Mercy ging weiter, dichter an den Teich heran. Mit dem Zeh stocherte sie im Eis herum. Die Oberfläche war schartig und voller Blasen, gefrorene Algen zogen sich wie Adern durch das Eis. Es würde nicht leicht sein, dort hindurch etwas zu sehen. Mercy beugte sich vor und rieb mit ihrem Handschuh den Reif weg.
    Das Gesicht starrte empor.
    So plötzlich und so nah, dass Mercy mit einem Satz zurücksprang. Das weiße Gesicht war nur Zentimeter von ihrem eigenen entfernt, die leeren Augen blickten ausdruckslos. Mercy atmete einmal tief durch, dann noch einmal und bereitete sich darauf vor, abermals in diese leeren Augen zu schauen. Auf dem Bauch robbte sie wieder näher heran, blieb auf dem harten Grund liegen und beugte sich wieder über den Teich. Der Geist war immer noch da: eine schöne junge Frau, deren dunkles Haar im Wasser

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