Das Haus der kalten Herzen
hin und begann, laut vorzulesen.
Mercy konnte weder die Worte verstehen noch feststellen, welchen Ursprungs die Sprache war. Dennoch schienen sich die Worte durch ihr Haar und in ihr Hirn zu bohren. Heilige Worte. Kraftvolle Worte, wie Shem, auf einen Zettel geschrieben, unter der Zunge des Golem. Hatte Gott das Universum nicht mit der Kraft seiner Worte aus dem Nichts geschaffen?
Claudius fuhr fort mit seiner Lesung. Die äußere Welt verschwand, der Raum zog sich zwischen den vier Wänden und dem Tisch zusammen, die Katze jaulte im Korb. Die Kerzen loderten auf wie eine einzige, verloschen und füllten den Raum mit Rauch. An ihrer Stelle leuchtete aus dem mit Tinte gezogenen Kreis ein kaltes blaues Licht auf, das den Raum erhellte. Die Instrumente auf dem Tisch klapperten. Ein Buch flog in die Luft, die Seiten wollten nicht wieder zur Ruhe kommen. In Mercys Schädel schienen sämtliche Knochen aneinanderzureihen. Dennoch machte Claudius weiter.
Die Katze kreischte ein letztes Mal und war dann still. Das blaue Licht flackerte, und eine kleine, intensiv leuchtende kobaltblaue Kugel tauchte aus der Kehle der Katze auf, rollte über ihre Zunge in einen gläsernen Trichter, der das blendende, fließende Licht durch die Glasrohre leitete. Langsam schob sich das Stück Licht das Rohr entlang. Es schien sich nur zögerlich zu bewegen. Zentimeter für Zentimeter kam es voran, bis es wie ein Stein in den Bauch des venezianischen Eis fiel.
In den Schaukästen an der Wand flatterten die Schmetterlinge mit ihren Flügeln. Der Hecht in der gläsernen Vitrine schnappte mit dem Maul und wand seinen langen Körper von einer Seite zur anderen. Die Dielenbretter ächzten, Nägel sprangen aus dem Holz.
Jetzt verlor Claudius an Stärke. Der Zauber hatte ihm geschadet. Blut rieselte aus dem linken Nasenloch über seine Lippen. Eine Fensterscheibe barst, dann noch eine. Das kobaltblaue Licht schwamm im Glasgefäß herum und nahm die Gestalt einer winzigen Katze an.
Der Wortstrom kam zu einem Ende. Sofort zog Claudius das Glasrohr aus dem Ei und verstopfte das Gefäß mit einem Holzpfropfen, um den Katzengeist darin festzuhalten. Triumph zeigte sich auf seinem Gesicht. Er wischte sich das Blut von der Nase und lila Beulen schwollen ihm um Augen und Mund an. Ob er wohl Schmerz empfand? Nichts deutete darauf hin, als er den Korb mit dem verbrauchten Katzenkörper gedankenlos auf den Boden stellte. Der blaue Schein verblasste und er zündete erneut ein Dutzend Kerzen an. Die Schmetterlinge zuckten immer noch. Der Hecht schlug schwach mit den Flossen und bleckte eine Reihe nadelspitzer Zähne.
Claudius schob die künstliche Katze in den Kreis. Er stellte den Apparat neu ein, ersetzte das Glasrohr durch ein anderes, das er in den Hals der Stoffkatze einführte. Er bückte sich, um den leuchtenden blauen Geist in dem Gefäß zu betrachten: die winzige Katze, die herumsprang, sich auf den Rücken wälzte und mit den Vorderpfoten nach unsichtbaren Stäubchen schlug.
»Der belebte Geist«, flüsterte er. »Die Ägypter nannten ihn Ka. Die Eskimos nannten es das Inua. Die unsterbliche Seele. Ich frage mich, ob eine Katze wohl ein kleineres Ka hat als ein Mensch?«
Er schaute sich die Katzenseele genau von allen Seiten an. Noch einmal überprüfte er die Anordnung der Rohre und Stopfen, dann nahm er ein zweites Pergament aus dem alten Ruch.
Mercy machte sich auf Worte gefasst, die rissen und zerrten. Sie stopfte sich die Finger in die Ohren. Claudius drehte an einer raffinierten Sperre in dem neuen Glasrohr und begann zu sprechen.
Dieses Mal waren die Worte sanft, zur Wiedererschaffung. Die starke Spannung im Raum löste sich. Die Schmetterlinge und der Fisch wurden ruhig in den Schaukästen und verloren ihre Lebendigkeit wieder. Die Worte beruhigten. Von draußen drang ein letzter Sonnenstrahl durch das Fenster und bestäubte die mannigfaltigen Gegenstände im Raum mit Gold. Mit einer Art Seufzer wurde die kleine Seele aus dem Gefäß in das Rohr hinabgesaugt, das in den Hals der Stoffkatze führte. Der letzte blaue Schimmer erlosch. Claudius legte das Pergament hin. Der Raum war absolut ruhig.
Jetzt atmete Mercy wieder leichter. Claudius tupfte sich das Gesicht mit seinem weißen Ärmel, immer noch tropfte ihm Blut aus der Nase. Er sah fürchterlich aus mit seinen schwellenden Beulen. Eine Haarsträhne an seiner linken Schläfe war weiß geworden.
Claudius’ Aufmerksamkeit galt nun der Stoffkatze. Er versiegelte das Loch in ihrer
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