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Das Haus der kalten Herzen

Das Haus der kalten Herzen

Titel: Das Haus der kalten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Singleton
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Kehle mit einem Stück Pergament und nähte einen Flicken darüber.
    »Wach auf«, sagte er. »Wach auf.«
    Die Katze lag noch immer schlaff da, nichts als ein Bündel aus Holz, Stoff und Sägemehl. Claudius streichelte ihr Gesicht und schüttelte sie.
    »Wach auf«, sagte er noch einmal. Er trat zurück. Erwartung und Angst rangen miteinander, man sah es an seinem Gesicht. Die Stoffkatze regte sich nicht. Eine Minute verging, dann eine weitere. Die Stoffkatze zuckte mit dem Schwanz. Mercy traute ihren Augen kaum. Claudius starrte. Der Schwanz zuckte noch einmal. Die Katze schien zu niesen. Ihre Beine zuckten krampfartig. Sie hob ihren Kopf und schaute sich um. Schläfrig stellte sie sich hin, konnte aber das Gleichgewicht nicht halten und stand ganz schief. Sie schwankte auf ihren vier Pfoten, doch dann sprang sie vom Tisch auf den Boden und fiel beim Aufkommen ungeschickt auf die Seite, kam wieder auf die Beine und torkelte wie betrunken im Raum herum. Es war unheimlich, wie katzenartig ihre Bewegungen waren. Zweigeteilt, halb stoffbezogen, halb bewegliches Skelett und sichtbare Füllung, war sie ein Graus.
    Claudius legte den Kopf in den Nacken und lachte. Auch er war ein Graus mit seinem geschundenen Gesicht und dem blutverschmierten Ärmel. Er tanzte über den Boden und stieß die Fäuste in die Luft. Die Katze überließ er ihren vorsichtigen Erkundungen und eilte in den angrenzenden Raum. Mercy folgte ihm.
    Eine lange, mit Eisen beschlagene Holztruhe lehnte an der Wand unter dem Fenster. Die Truhe war mit einem Vorhängeschloss von der Größe einer Männerfaust verschlossen. Claudius sank auf die Knie und steckte den Schlüssel ins Schloss. Voll Ehrfurcht hob er den Deckel. Mercy durchquerte den Raum, um sich hinter ihn zu stellen und ihm über die Schulter zu schauen. Der Deckel fiel zurück gegen die Wand. Claudius schlug ein Stück feine weiße Seide zurück – und enthüllte das wunderschönste, erstaunlichste Ding, das sie je gesehen hatte oder je sehen würde.
    Der Plan wurde sogleich klar.
    In der Truhe lag eine Seidenpuppe mit langem kastanienbraunen Haar. Marietta in Perfektion. Eine fehlerlose, bezaubernde Kreation mit schlanken, weichen Gliedern. Ihre künstliche Haut schimmerte frisch wie Tau. Ihre Lippen, eine Rosenblüte, waren ein wenig geöffnet. Die Hände lagen gekreuzt auf ihrer Brust.
    Wie hatte Claudius dieses Wesen erschaffen? Ihre Schönheit war übermenschlich. Sie war ein Engel. Eine Göttin.
    Unter der Seidenhaut war zweifelsohne Fleisch aus Sägemehl und Rosshaar auf ein Skelett von Elfenbein und Holz montiert, wie bei der Stoffkatze. Doch solche gewöhnlichen Dinge konnte man sich in der seidenen Hülle der Engelspuppe mit den Perlenfingernägeln und den Blütenblattlidern über Augen aus Saphir und Glas nur schwer vorstellen.
    Claudius starrte sie an und lächelte. Er streckte die Hand aus, um das Gesicht der Puppe zu berühren. Dann erinnerte er sich an den Schmutz auf seinen Händen und zog sie schnell zurück.
    »Bald«, sagte er. »Bald, Marietta, werden wir für immer zusammen sein.«

Acht
    Der dunkle Oktoberabend nahm seinen Lauf. Ein Mädchen mit einem Korb voll Späne und Kohle kam in die Bibliothek und hockte sich vor den Kamin, um Feuer zu machen. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug zur halben Stunde.
    Mercy saß am Schreibtisch ihres Vaters. Ein rotes Buch mit Goldprägung lag vor ihr auf dem Tisch. Trajans Das Haus der kalten Herzen, es ähnelte dem Buch, das sie an dem Sommertag in der Bibliothek gesehen hatte. Das Buch, das die Geschichte erzählte, die den Zauberbann zusammenhielt. Und wie jenes andere hatte es einen übernatürlichen Glanz. Ein seltsames Gefühl kribbelte durch ihre Finger und über ihre Haut, als sie darin blätterte. Es ist dasselbe, dachte sie, das einzige Buch, kein Duplikat. Wie ein magischer Faden flocht es sich durch den Käfig von Trajans Tagen und hielt sie zusammen.
    Jetzt konnte sie einen Sinn in Trajans erstem Kapitel sehen. Sie überflog die Seiten und las von der Ankunft der Vergas in England. Im Jahre 1700 hatten Trajan und Thekla einen Agenten aus Italien geschickt, der das Land für ihr neues Haus aufkaufte. Sie hatten den Besitz Century genannt, zu Ehren des soeben angebrochenen Jahrhunderts. Später wurde das Haus erbaut und das Paar zog nach England um. Die Kinder wurden geboren. Dann erzählte die Geschichte von der Begegnung von Claudius und Marietta, der Unstimmigkeit zwischen den Brüdern und dem von Claudius entwickelten

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