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Das Haus der kalten Herzen

Das Haus der kalten Herzen

Titel: Das Haus der kalten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Singleton
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enthielten nichts weiter als Listen von Buchstaben. Sie blätterte sich durch die Seiten. Am Ende des Jahrhunderts, zu der Zeit, als ihre Eltern nach England gezogen waren, war Claudius offenbar durch Nordafrika und den Nahen Osten gereist. Marokko, Ägypten und Persien wurden in seinen Notizen erwähnt. Er hatte in Orten wie Algier, Kairo und Luxor geschrieben. Arabische Notizen waren in das Latein eingestreut, ebenso wie Hieroglyphen, die von den Wänden ägyptischer Gräber kopiert worden waren, und Skizzen des von den Toten erweckten Gottes Osiris. Claudius hatte die Kunst des Mumifizierens erlernt, den Beweis dafür lieferten detaillierte Zeichnungen und Notizen, die Dutzende von Seiten füllten. Zwei Jahre später war er nach Prag gereist, um die Geschichte des Rabbi Löw Ben Bezalel zu untersuchen, der 1590 einen Golem erschaffen hatte, einen Mann aus Ton, der zum Leben erweckt worden war, nachdem der Rabbi ihm ein Stück Papier unter die Zunge gelegt hatte, auf dem das heilige Wort Shem geschrieben stand.
    In der Mitte des 18. Jahrhunderts versiegten die Notizen. Vielleicht war Claudius seine Studien leid geworden. Vielleicht hatte er sich ein Jahrzehnt oder zwei mit der Dichtkunst vertrieben, mit der Jagd oder mit Müßiggang. Es war seltsam, dass ein Mann, der mit solcher Langlebigkeit begabt war, sich so lange Zeit mit dem Problem von Tod und Wiedergeburt herumgeschlagen hatte. Andererseits waren diese Studien auch eine Suche nach dem Ursprung. Claudius versuchte zu verstehen, wie er – und mit ihm die gesamte Familie der Vergas – dem Schicksal hatte entgehen können, das jeder anderen Pflanze, jedem Tier und Menschen auf der Erde beschieden war. Wer waren sie? Warum besaß die Familie einen solchen Schatz besonderer Gaben?
    Mercy arbeitete sich weiter voran. Am Ende des Jahres 1788, nur ein Jahr zuvor, wurden die Notizen wieder ernsthaft aufgenommen. Doch ehe Mercy weiterlesen konnte, schlug Claudius die Tür zu und legte zwei schwere Riegel vor. Sechs vernagelte Kisten standen um ihn herum. Stempel fremder Häfen verschmierten das rohe Holz. Claudius begutachtete sie, einen nach dem anderen. Dann nahm er ein Brecheisen vom Tisch und stieß es unter den Deckel der ersten Kiste, die aus Venedig kam. Das Holz splitterte und die Nägel ächzten, als er den Deckel aufhebelte. Darinnen lag, sorgfältig in Stroh gebettet, so etwas wie ein glattes Ei aus Glas. Er warf Hände voll Stroh auf den Boden und hob das Gefäß ehrfürchtig heraus. Ein langes Röhrchen war der einzige Zugang ins Innere der zarten Glaskugel. Bewundernd hielt Claudius das Gefäß ins Licht und legte einen hölzernen Maßstock an.
    »Wunderschön«, sagte er laut. »So wunderschön. Sie haben sich selbst übertroffen. Es ist vollkommen, ganz so wie ich es haben wollte.« Vorsichtig legte er das Gefäß auf das Strohbett zurück und machte sich über die anderen Kisten her. Eine zweite mit venezianischem Stempel barg andere kleinere Glasteile und zwei farbige gläserne Kugeln in einer gepolsterten Schachtel. Andere Kisten enthielten Bücher mit eng gedruckten Texten, Mappen mit Pergamenten, Stoffballen, Beutel voller farbiger Kristalle und Puder, Flaschen mit verschiedenen Flüssigkeiten. Das Seltsamste von allem war aber das bemerkenswerteste Kleid, das Mercy je gesehen hatte.
    Dieses Kleid hob Claudius aus der letzten Kiste, deren Stempel Mercy nicht entziffern konnte. Es mochten russische Buchstaben sein. Lautlos entfaltete sich der Stoff. Mercy sog die Luft ein. Sie erinnerte sich an Märchen, in denen Feen und hingebungsvolle Mütter Gewänder aus Mondschein und Spinnweben fertigten, aus Sternenblumen und Tautropfen. Das Kleid war weiß, grau und silbern, obwohl nüchterne Farbnamen die geheimnisvolle Mischung aus Perle, Schneeflocke, Seenebel und Reif nicht treffend beschreiben konnten. Das Kleid eines Winters. Ein Hochzeitskleid. Claudius umarmte das Gewand so, als steckte seine zukünftige Braut bereits darin. Mit den Fingern fuhr er über die Stickerei, das mit winzigen Edelsteinen verzierte Gewebe. Er presste das Gesicht in die kühl fallende Seide der Röcke. Wie sehr er Marietta liebte. Das sah Mercy jetzt an der Zärtlichkeit, mit der er das Kleid überschüttete, das er zu Mariettas Zierde gekauft hatte, und an dem Entzücken auf seinem Gesicht.
    Er trug das Gewand auf die andere Seite des langen Raumes und schloss die Tür auf. Mercy erhaschte einen letzten Blick auf das Kleid, das er in eine Eichentruhe legte. Er

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