Das Haus der kalten Herzen
liebe dich auch.«
Die Krähen krächzten und flogen auf, hoch über die Kapelle. Für einen Moment schaute Mercy weg und verfolgte ihren Flug mit den Augen. Als sie sich wieder zu ihrer Mutter umdrehte, war Thekla verschwunden, und das erste Buch schmolz im Wind. Unberührt lag der Schneeglöckchenteppich da. Die Blumen zitterten.
Voller Erinnerungen schloss Mercy ihr eigenes Buch in die Arme und lächelte. Ein Gefühl der Wärme quoll aus ihrem armen, verschlossenen Herzen, es rieselte durch Arme und Beine und wärmte ihre Magengrube, ihre Finger und Zehen.
Die Braun- und Grautöne des Winters, der Duft von Frühlingsblumen, die Sommerhitze, die Früchte und Feuer des Herbstes. Das alles würde sie bekommen. Und noch mehr. Noch viel, viel mehr. Sie verließ die Grabstätte. In der schummerigen Geborgenheit der Kapelle, dort, wo das Sonnenlicht Farbsplitter durch die Buntglasfenster fallen ließ, schrieb Mercy das gute Ende nieder. Sie schrieb, wie die Vergangenheit wie ein Kartenspiel neu gemischt wurde, wie sie sich auflöste und alle aus ihrem Griff entließ. Wie sich die Dunkelheit von dem großen Haus, den Gärten und dem Park, den Wiesen und dem See hob. Wie Trajan, Mercy und Charity hinaus ins Leben traten und sich auf ein neues Jahrhundert freuten und auf die Welt, in der Männer und Frauen ein geschäftiges Leben führten. Wie Thekla endlich Frieden fand und Claudius demütig zur Familie in der alten Heimat zurückkehrte.
Mercy legte ihren Stift hin und schaute das Fenster hinter dem Altar an, den weißen Christus mit seinem roten Tuch, die zarten Engel mit den mächtigen Schwingen. Sie schlug das Buch zu, ging den Gang hinauf und zur Tür hinaus.
Unter dem Vordach blieb sie stehen, schaute an Eiben und Grabsteinen vorbei, den Hügel hinab zum Haus. Die Welt war still und voller Erwartung, so, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen. Mercy konnte den Staub und die Spannung in der Luft schmecken.
Der Himmel zuckte, wurde dunkel und wieder hell. Die Nacht kehrte zurück … wie eine Kuppel, die sich über Haus und Gärten legte. Mercy war schwindelig. Das Blut wich aus ihrem Kopf und ein Knoten ballte sich in ihrer Magengrube zusammen. Sie lehnte sich gegen die Steinmauer, denn sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Die ganze Kapelle schien zu kippen. Sie klammerte sich an die Wand und das Buch rutschte ihr aus den Händen und fiel auf den Steinboden.
Draußen teilte sich der Nachthimmel. Wie eine Eierschale löste sich die dunkle Wölbung vom östlichen Horizont, nach oben bis über ihren Kopf und nach Westen wieder hinunter. Links und rechts zog sich die Nacht zurück und Century stand wie aus dem Ei gepellt im hellen Sonnenschein da.
Auf dem Boden machte Mercys rotes Buch einen Satz und schlug sich auf. Die erste Seite blätterte sich um. Dann die nächste und noch eine, ganz schnell. Text und Bilder sausten vorbei wie im Fluge. Mercy drückte ihren Bücken gegen die Wand und wünschte sehnlichst, die Kapelle möge sich wieder gerade hinstellen. Aber der Zauber der Erneuerung hatte gerade erst begonnen.
Draußen frischte der Wind auf, graue Wolken rasten über Mercy hinweg, schneller und immer schneller wirbelten sie dahin. Die Sonne eilte über den Himmel wie ein Streitwagen, ging unter, nur um nach einem Augenblick der Dunkelheit im Osten wieder aufzugehen. Der Tag blitzte, dann kam eine weitere Nacht und noch eine. Der Mond kreiste, schwoll von rund zu rund und nahm wieder ab. Die Bäume standen voller Blätter und dann wieder kahl wie Skelette in ihrer winterlichen Gestalt da. Wellen grellen Grüns breiteten sich über die Felder, hoben sich und verschwanden wieder. Die Eiben auf dem Friedhof wuchsen und ächzten.
Mercy war wieder zwölf. In ihrem zerlumpten Kleid taumelte sie von der Mauer weg und fand ihr Gleichgewicht in den immer schneller vorüberziehenden Jahren von Centurys zurückgewonnener Vergangenheit wieder. Sie löste ihr rußiges Haar und trat hinaus aus den Schatten, die um die Kapelle herumtanzten. Unter ihren Füßen zitterte der Boden. Sie zog die Schuhe aus, um das Gras und die Hitze vergangener Jahre zu spüren. Dann rannte sie den Hügel hinunter. Die Bäume streckten ringsherum ihre Äste aus, drehten und reckten sich zur Sonne. Mit den Jahreszeiten wuchsen rings um sie herum Gras und Blumen, die blühten und wieder abstarben.
Der Strudel des Lebens packte und berauschte sie. Unter der Bosskastanie blieb sie stehen und streckte ihre Arme aus. Lachen stieg in ihr auf
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