Das Haus der Madame Rose
Gemüte geführt und belästigte eine vornehm gekleidete Dame. Ein anderer Mann forderte ihn auf, dies zu unterlassen, und stieß ihn von der Dame weg. Daraufhin stürzte sich der Trunkenbold auf ihn, man hörte einen schauderhaften Schlag, einen Schrei, es floss Blut, und der arme Mann, der die Dame retten wollte, hatte ein gebrochenes Nasenbein. Doch da hatte sich schon ein weiterer Mann in die Schlägerei eingemischt, und im Nu war die ganze Straße voller prügelnder, schwitzender Männer. Die Dame stand da, umklammerte ihren Sonnenschirm und sah einfach nur niedlich und dümmlich aus. (Ach, ihre Garderobe hätte Dir gefallen: eines dieser körperbetonten Kleider mit Wespentaille und glockigem Saum – eine blau gepunktete Augenweide – und ein ziemlich flotter Hut mit einer Straußenfeder, die genauso zitterte wie sie selbst.)
Komm bald wieder nach Hause, liebste Rose, und bring mir auch meine Lieben wohlbehalten zurück.
Deine Dich liebende Schwiegermutter
Odette Bazelet
Vergangene Nacht schlief ich nicht gut . Die Albträume plagten mich wieder. Der Eindringling ging langsam und ohne jede Eile die Treppen hinauf, er wusste ganz genau, dass ich oben war und schlief. Das Knarren der Stufen – wie gut ich es höre und wie sehr es mir Angst macht! Ich weiß, dass es keinen Frieden bringt, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Es führt zu Unruhe und Reue. Doch die Vergangenheit ist alles, was ich noch habe. Ich bin jetzt allein, Liebster. Violette und mein aufgeblasener Schwiegersohn glauben, dass ich auf dem Weg zu ihnen sei. Meine Enkelkinder erwarten ihre »Grand-mère«. Germaine fragt sich, wo »Madame« bleibt. Meine Möbel kamen letzte Woche dort an, meine Koffer und Truhen vor ein paar Tagen. Germaine hat bestimmt schon meine Kleider ausgepackt. Mein Zimmer in ihrem großen Haus mit Blick auf die Loire ist gewiss schon hergerichtet. Blumen auf dem Nachttisch. Frische Bettwäsche. Wenn sie anfangen, sich Sorgen zu machen, werden sie mir sicherlich schreiben. Mir ist das alles ziemlich egal.
Vor fast fünfzehn Jahren begann der Präfekt mit seinen massiven Abrissarbeiten, und wir erfuhren, dass auch das Heim meines Bruders Émile dem Bau des neuen Boulevard de Sébastopol zum Opfer fallen sollte. Émile ging dies nicht sonderlich nahe, er bekam eine beachtliche Entschädigungssumme und beschloss zusammen mit seiner Frau Edith und den Kindern in den Ort westlich der Stadt zu ziehen, wo Ediths Familie lebt. Émile ist nicht wie Du, er hing nicht an seinem Haus. Für Dich aber waren Häuser wie Menschen, nicht wahr? Sie haben eine Seele, ein Herz, sie leben und atmen. Häuser haben ein Gedächtnis. Nun ist Émile ein älterer Herr mit Gicht und einem kahlen Kopf, ich glaube, Du würdest ihn nicht wiedererkennen. Ich finde, er sieht meiner Mutter ähnlich – zum Glück aber hat er nichts von ihrer Eitelkeit und Oberflächlichkeit. Nur die lange Nase und das Kinn mit dem Grübchen, das ich nicht von ihr geerbt habe.
Nach dem Tod unserer Mutter, gleich nach dem Staatsstreich, und nach dem Abriss von Émiles Haus sahen wir ihn leider nicht mehr so oft. Wir hatten ihn noch nicht einmal in seinem neuen Haus in Vaucresson besucht. Doch Du mochtest meinen Bruder »Mimile«, wie wir ihn nannten, von Herzen. Er war der kleine Bruder, den Du nie hattest.
An einem unheilvollen Nachmittag wollten wir beide zur Baustelle spazieren, um die Fortschritte zu verfolgen. Émile war mit seiner Familie schon umgezogen. Du gingst bereits sehr langsam, Armand, die Krankheit forderte ihren Tribut. Du hattest nur noch zwei Jahre zu leben, was wir damals natürlich nicht wussten. Noch immer konntest Du, untergehakt, gemächlich an meiner Seite schlendern.
Auf das, was uns erwartete, waren wir nicht vorbereitet. Unser friedlicher Faubourg war immer so anders gewesen als das, was wir nun sahen. Das war nicht mehr Paris, das war Krieg.
Wir wussten ganz einfach nicht mehr, wo wir uns befanden. Wir waren wie immer die Rue Saint-André-des-Arts Richtung Rue Poupée hinaufgegangen – aber diese war verschwunden.
Stattdessen klaffte ein riesiges Loch zwischen zertrümmerten Häusern. Benommen sahen wir uns um. Wo in aller Welt war Émiles Haus geblieben? Émiles Viertel? Das Restaurant in der Rue des Deux Portes Saint-André, wo wir seine Hochzeit gefeiert hatten? Die renovierte Bäckerei in der Rue Percée? Und die schöne Boutique, wo ich diese modischen, bestickten Handschuhe für Maman Odette gekauft hatte? Nichts war übrig.
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