Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus der Madame Rose

Das Haus der Madame Rose

Titel: Das Haus der Madame Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatiana de Rosnay
Vom Netzwerk:
Sprachlos schleppten wir uns weiter.
    Wir entdeckten, dass die Rue de la Harpe genauso wie die Rue Serpente in ihrer Länge stark zurückgestutzt worden waren. Um uns herum schienen die teilweise abgerissenen Gebäude gefährlich zu schwanken, man sah noch Tapetenfetzen, verkohlte, verrußte Teile von Kaminen, Türen hingen sinnlos in Angeln, intakte Treppen wanden sich ins Nichts. Es war wie eine Halluzination, mir schwindelt noch immer, wenn ich daran zurückdenke.
    Behutsam bahnten wir uns einen Weg zu einer geschützteren Stelle und blickten beklommen in eine Grube hinein. Horden von Arbeitern mit Spitzhacken, Schaufeln und Hämmern schwärmten wie eine riesige Armee durch Berge von Schutt und wabernde Staubwolken, die uns in den Augen brannten. Breite Kolonnen von Pferden zogen Bohlen auf Karren. Hier und da brannten lodernde Feuer mit unvorstellbarem Furor, während Männer immer mehr Holz und immer mehr Schutt in die gierigen Flammen warfen.
    Der Lärm war entsetzlich. Weißt Du, ich kann noch immer das laute Knistern des Feuers hören, die Schreie und Rufe der Arbeiter, das unerträgliche Hämmern der Äxte, die sich in den Stein gruben, die donnernden Schläge, die die Erde unter unseren Füßen erbeben ließen. Schnell waren unsere Kleider von einer dicken Rußschicht bedeckt, unsere Schuhe mit Kalk verschmutzt, der Saum meines Kleides war durchnässt. Unsere Gesichter waren grau vom Schotterstaub, unsere Münder und Zungen trocken. Wir husteten und keuchten, Tränen liefen uns über die Wangen. Ich spürte, wie Dein Arm an meinem Arm zitterte. Doch wir waren nicht die einzigen Zuschauer. Auch andere waren gekommen, um sich die Zerstörung anzusehen. Ihre schmutzigen Gesichter waren voller Angst, ihre Augen, die von Asche und Staub brannten, waren rot und tränten.
    Wir hatten davon in der Zeitung gelesen. Wie alle Pariser wussten wir, dass Teile unserer Stadt erneuert werden sollten, aber so ein Inferno hätten wir uns niemals vorstellen können. Gelähmt von dem, was ich da sah, grübelte ich darüber nach, dass hier einmal Menschen gelebt und geatmet hatten, dass dies ihr Zuhause gewesen war. Dort drüben an der einstürzenden Wand sah man die Überreste eines offenen Kamins und die schwachen Spuren eines Gemäldes, das dort gehangen hatte. Im Winter hatte sich eine Familie vor dem Kamin versammelt. Und diese heitere Tapete hatte einmal ein Schlafzimmer ausgekleidet, hier hatte jemand geschlafen und geträumt. Und was war davon übrig geblieben? Eine Brache.
    Das Leben in Paris unter der Herrschaft unseres Kaisers und unseres Präfekten war wie das Leben in einer belagerten Stadt, die täglich von Schmutz, Schutt, Asche und Schlamm heimgesucht wurde. Unsere Kleider, Schuhe und Hüte waren immer staubig. Ständig brannten uns die Augen, unser Haar war andauernd mit einer Schicht feinen grauen Puders bedeckt. Was für eine Ironie, dachte ich, als ich Deinen Arm streichelte, dass direkt neben diesem riesigen Trümmerfeld andere Pariser seelenruhig weiterlebten. Und das war erst der Anfang – was noch vor uns liegen sollte, ahnten wir mitnichten. Seit drei, vier Jahren mussten wir nun mit den Verschönerungsaktionen leben. Wir hatten keinen Schimmer, dass der Präfekt keinerlei Mitleid zeigen würde: dass er unsere Stadt noch weitere fünfzehn Jahre mit der unmenschlichen Grausamkeit von Enteignung und Zerstörung schlagen würde.
    Wir beschlossen, schnell diese Baustelle zu verlassen. Du warst leichenblass und bekamst kaum Luft. Wie kämen wir zur Rue Childebert zurück? Wir hatten die Orientierung verloren. Wir waren auf unbekanntem Terrain. Egal, in welche Richtung wir in unserer Panik gingen, wir trafen auf ein Pandämonium – Wirbelstürme aus Asche, donnernde Explosionen, Lawinen von Ziegelsteinen. Der Morast und der feuchte Schutt knirschten unter unseren Schritten, während wir verzweifelt versuchten, von hier wegzukommen. »Aus dem Weg, Himmelherrgott!«, brüllte eine wütende Stimme, als nur wenige Meter entfernt eine ganze Fassade mit einem ohrenbetäubenden Schlag und dem schrillen Bersten von Glas einstürzte.
    Wir brauchten Stunden nach Hause. An jenem Abend sprachst Du sehr lange nicht. Dein Abendessen rührtest Du kaum an, Deine Hände zitterten. Ich sah ein, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, Dich mitzunehmen und Dir zuzumuten, diese Zerstörung mit anzusehen. Ich versuchte, Dich zu trösten. Ich wiederholte genau die Worte, die Du selbst ausgesprochen hattest, als der Präfekt

Weitere Kostenlose Bücher