Das Haus der Madame Rose
denn ich hatte mich für die Marter gewappnet, die ich mit Violette durchstehen musste. Doch da war es schon, dieses prachtvolle Kind, gesund, rosig und energisch, und betrachtete die Welt bereits aus großen Augen. Wie sehr ich mir wünschte, Maman Odette hätte ihren Enkel noch erleben können, aber sie hatte uns schon vier Jahre zuvor verlassen. Ja, diese Dekade war golden, golden wie das Haar unseres Sohnes. Er war ein unkompliziertes, glückliches Kind. Nie beklagte er sich, und wenn, dann mit so einem Liebreiz, dass man dahinschmolz. Er baute gern kleine Häuser aus bunten Holzklötzen, die Du ihm zum Geburtstag geschenkt hattest. Stundenlang errichtete er sorgfältig ein Haus, Zimmer für Zimmer.
»Das ist dein Schlafzimmer, Maman«, sagte er dann stolz. »Da scheint die Sonne herein, so wie du es magst. Und Papas Studierzimmer ist gleich hier, mit einem großen Schreibtisch, wo er alle seine Papiere ablegen und seine wichtigen Arbeiten erledigen kann.«
Es fällt mir so schwer, dies niederzuschreiben, Armand. Ich habe Angst vor der Macht der Worte, sie können einen verletzen wie ein scharfes Messer. Das Kerzenlicht flackert an den kahlen Wänden. Ich habe Angst. Angst vor dem, was ich sagen muss. Bei der Beichte bei Père Levasque versuchte ich schon so oft, mein Gewissen zu erleichtern, aber es ging nicht. Ich habe es nie geschafft.
Irgendwie wusste ich immer, dass Gott mir meinen Sohn nehmen würde, dass meine Zeit mit ihm knapp bemessen wäre. Jeder Augenblick mit ihm war eine Freude. Eine Freude, überschattet von Angst. Im Februar fegte eine weitere Revolution durch unsere Stadt. Dieses Mal war ich nicht ans Bett gefesselt und bekam alles mit. Ich war vierzig und trotz meiner Jahre noch immer kräftig und stark. Die Unruhen brachen in den ärmeren Vierteln der Stadt aus, Barrikaden aus Eisengittern, umgekippten Wagen, Möbeln, Baumstämmen wurden in den Straßen aufgebaut. Du erklärtest mir, der König hätte es nicht geschafft, der Korruption in der Politik ein Ende zu bereiten, und eine beispiellose Wirtschaftskrise hätte uns heimgesucht. Das betraf mich nicht, mein Alltag als Ehefrau und Mutter hatte sich nicht verändert. Die Preise auf dem Markt waren zwar in die Höhe geschnellt, aber unsere Mahlzeiten waren noch immer üppig. Unser Leben war – in dem Moment – noch dasselbe.
1849. Baptiste war zehn Jahre alt . Es war das Jahr, in dem der Präfekt und der Kaiser sich zum ersten Mal begegneten. Das Jahr nach den Barrikadenkämpfen und der Februarrevolution. Das ist nun fast zwanzig Jahre her, doch mein Herz blutet noch immer, während ich dies niederschreibe. Baptiste war wie ein kleiner Kobold immer in Bewegung, wendig und schnell wie der Blitz. Sein Lachen hallte durchs Haus. Weißt Du, manchmal kann ich es noch immer hören.
Schon früh kursierten Gerüchte über diese Krankheit. Ich hörte sie zuerst auf dem Markt. Den letzten Ausbruch hatte es kurz nach Violettes Geburt gegeben. Allein in Paris waren Tausende Menschen gestorben. Man musste sehr vorsichtig sein mit dem Trinkwasser. Baptiste spielte gern am Brunnen in der Rue d’Erfurth. Ich konnte ihn vom Fenster aus sehen, die Kinderfrau passte auf ihn auf. Ich hatte ihn zur Vorsicht ermahnt, Du auch, aber er hatte seinen eigenen Kopf.
Alles ging ganz schnell. Die Zeitungen waren bereits voller Todesmeldungen, die Opferzahlen stiegen Tag für Tag. Das scheußliche Wort brachte Angst und Schrecken über unser Zuhause: Cholera. Eine Frau aus der Rue de l’Echaudé war ihr erlegen. Jeden Morgen wurde ein weiterer Todesfall gemeldet. Die Angst hielt unsere Straße gefangen.
Und eines Morgens in der Küche brach Baptiste zusammen. Mit einem Schmerzensschrei fiel er auf den Boden, er heulte auf, sagte, er hätte einen Krampf im Bein. Ich eilte zu ihm. Doch sein Bein schien in Ordnung zu sein. Ich tröstete ihn, so gut es ging. Seine Stirn war heiß und feucht. Er begann zu weinen, er krümmte sich vor Schmerz. Ich hörte ein schreckliches Gurgeln in seinem Bauch. Ich sagte mir, das darf nicht sein, nein, nicht mein Sohn, mein über alles geliebter Sohn. Alles, nur das nicht! Ich erinnere mich, dass ich nach Dir rief, Deinen Namen die Treppe hinaufschrie.
Wir trugen Baptiste in sein Zimmer und holten den Arzt. Aber es war zu spät. Ich konnte Dir ansehen, dass Du es wusstest, aber Du sagtest mir nichts. In nur wenigen Stunden waren alle Säfte aus seinem glühenden, sich windenden Leib entwichen, sie sickerten, quollen aus ihm heraus.
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